„Immer Ich – Faszination Selfie“, bis Januar 2022 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, Eintritt frei, www.hdg.de; „Der Leipziger Liebknecht – Held oder Hassfigur?“, bis 30. Januar 2022 im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, www.stadtgeschichtliches-museum-leipzig.de
Was das Zeitgeschichtliche Forum und das Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig aus ihren gegenwärtigen Ausstellungen machen beziehungsweise nicht. Eine Ausstellungskritik
Fangen wir harmlos an, schlendern wir durch das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig, immerhin ist dort gerade die Ausstellung „Immer Ich – Faszination Selfie“ zu sehen. Ein Zitat vom Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich aus dem Jahre 2019 fällt dort sofort auf, es schärft die Sinne: „Als Millionen über Millionen weltweit damit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, begann nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte.“
Wow, eine neue Phase der Kulturgeschichte! Das klingt wichtig! Und das ist es auch: Was hat die Schau über diese so bedeutende Zäsur mitzuteilen?
Klar, da gibt es die üblichen Dinge: Über QR-Codes werden Informationen bereitgestellt, überall Videos und Bilder. Gleich am Anfang wird man noch einmal daran erinnert, dass deutsche Zeitungen wie „Die Zeit“ oder „Die Welt“ vor mehr als vier Jahren ernsthaft darüber diskutierten, ob Angela Merkels Selfies mit einem syrischen Asylsuchenden zum sogenannten „Flüchtlingsstrom“ beigetragen haben. Ärgern wir uns und halten wir fest: Ein Selfie kann wirkmächtig sein, es kann Politiker mit der Aura der Volksnähe ausstatten. Aber kann es auch Demokratie und Menschenrechte fördern?
Emsig reiht die Ausstellung diverse Phänomen aneinander. Hier die Geschichte des Fotografen David J. Slater, an dessen Affen-Selfies entschieden wurde, dass Tiere keine Fotorechte haben könnten. Da ein historischer Exkurs zum Kamerahersteller „Minolta“, der 1983 für einen Selfie-Stick noch verspottet wurde.
Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob die Jagd nach dem perfekten Foto die analoge Welt vergessen lässt. Ein bisschen Narzissmus, ein bisschen Influencer- Zitate: „Als es nur wenige Likes gab, war mein Urlaub gelaufen.“
Aber das Entscheidende, man glaubt es kaum, fehlt: Wie funktioniert das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen? Wie kann man deren Steueroasen austrocknen? Welche Rechte und Pflichten haben sie? Welche politischen Wahlen können sie wie beeinflussen?
Das Selfie, die Digitalisierung insgesamt, hat vielleicht eine „neue Phase der Kulturgeschichte“ eingeläutet – man kann sie aber nicht ohne eine „neue Phase der Konzerngeschichte“ verstehen. Ebenso versäumt die Schau all die Auswirkungen auf die Psyche, das Leiden unter Schönheitsidealen. Was sind das für gesellschaftlich- politische Verhältnisse, die zu einem Selfie-Boom, zu einem Siegeszug des Ichs einladen? Wie steht es eigentlich um die Klimabilanz eines jeden hochgeladenen Bildes? In Leipzig kann man zwar an Selfie-Stationen rumspielen, sich in exotischen Gefilden ablichten lassen, aber entscheidende Sachen werden gar nicht erst thematisiert. Was ist da los?
Schlendern wir weiter, gehen wir ins Stadtgeschichtliche Museum Leipzig, die Ausstellung heißt dort „Der Leipziger Liebknecht – Held oder Hassfigur?“ Karl Liebknecht (1871–1919) – bei diesem Thema geht es um Antimilitarismus, um Weltkriege, um politische Morde und um die endgültige Spaltung der Linken: Reform oder Revolution? Ein heißes, ein brisantes Thema!
Und was wird gezeigt? Die Biografie, Dokumente, Holzschnitte, Schriftstücke und Fotos, persönliche Gegenstände und Kleidungsstücke. Ein bebilderter Wikipedia- Eintrag. Okay, kann man machen. Vielleicht muss man das Museum sogar dafür loben, den Leipziger Liebknecht überhaupt ausgegraben zu haben.
Aber was sollen denn diese vom Museum selbst eingefügten Plakate, die fragen, warum man sich an Liebknecht und die Arbeiterbewegung überhaupt noch erinnern sollte? Im gleichen Atemzug könnte man auch fragen, warum man sich überhaupt noch an die gesellschaftlich- politischen Entstehungsbedingungen der Weltkriege erinnern sollte? So eine Frage ist absurd, gefährlich, für ein Museum gar beschämend!
Und dann der Abschnitt zur Gegenwart Liebknechts: Man hat allen Ernstes nur Fan-Choreografien des Fußballvereins „SV Babelsberg 03“ gefunden! Um Himmels willen! Was ist mit Liebknechts Erbe, mit seiner Überzeugung, dass wirtschaftliche Interessen die kriegerischen Auseinandersetzungen leiten? Wer das nicht in die Gegenwart übersetzen kann, glaubt auch, dass die Nato Liebe, Sonne und Freiheit oder die westlichen Werte nach Afghanistan bringen wollte.
Oder was ist mit all den politischen Morden? Auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden 1919 von rechtsextremen Freikorps-Schergen umgebracht. Ist die Zusammenarbeit der Ebertschen Übergangsregierung (SPD) mit den rechtsextremen Freikorps schon ausreichend aufgearbeitet? Welche Konsequenzen hatten damals die zahlreichen politischen Morde? Schufen sie ein Klima, dass die kommenden Katastrophen ermöglichte?
Fazit: Die Themen „Liebknecht“ und „Selfie“ bergen so viel Sprengstoff, so viel gegenwärtige Relevanz, dass man sich nur verwundert die Augen reiben kann, wie viel davon schlichtweg verschenkt wird, wie viel davon überhaupt gar nicht zur Sprache kommt. Ist das ein Trend oder sind das Einzelfälle?
Versagen auch noch die Bildungseinrichtungen, wird es noch düsterer im Land. Und gerade kam die Meldung, dass die meisten Kinder und Jugendlichen bei der U18-Wahl in Sachsen für die AfD gestimmt haben.