Der Entschluss – mit Lesung aus dem Buch „Die Nadel im Ozean“ von Hans-Peter Spitzner, 13. November, Luchskino, 18 Uhr, www.derentschluss-film.de
Die Dokumentarfilmerin Nancy Brandt ist gebürtige Hallenserin und lebt heute in Leipzig. Am 13. November stellt sie ihren Film „Der Entschluss“ im Luchskino vor. Erzählt wird die Geschichte vom vermutlich letzten Mauerflüchtling am Checkpoint Charlie: Hans-Peter Spitzner floh mit seiner siebenjährigen Tochter Peggy im Kofferraum eines amerikanischen Soldaten im August 1989 nach Westberlin. Grund genug, bei Brandt nachzufragen.
Ihr Film wurde auch vom Sonderförderprogramm des Freistaates Sachsen „Demokratie und Revolution 1918/89" finanziell unterstützt. Auf deren Homepage steht: „Die Revolutionen von 1918/19 und 1989/90 bahnten den Weg in die Demokratie, eine parlamentarische Regierungsform und den Rechtsstaat.“ Stimmen Sie diesem Zitat zu?
1918/19 und ‘89/90 waren definitiv entscheidende Momente in der deutschen Geschichte, die wichtige und fundamentale gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachten. Natürlich kann man bei beiden Ereignissen aus der heutigen Sicht auch sehr kritisch statuieren, dass vieles von dem, was möglich gewesen wäre, nicht umgesetzt werden konnte. Gerade in Hinblick auf die Weimarer Republik meinen einige Historiker, dass, wenn es damals einen echten Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit gegeben hätte, Hitler vielleicht nie an die Macht gekommen wäre. Auch ‘89 träumten viele im Osten von der Chance einer neuen, gemeinsam ausgearbeiteten, gesamtdeutschen Verfassung, die dann nie kam, weil das gesellschaftliche Modell der BRD weitestgehend übernommen worden ist. Hier sind viele Chancen verspielt worden, gerade auch im Bildungsbereich, was sich bis heute auswirkt.
Inwieweit zeigt „Der Entschluss“ mehr als „nur“ ein persönliches Schicksal?
Im Film geht es einerseits um die Gründe der Flucht, die Flucht an sich und die Konsequenzen, die sie mit sich bringt. Aber mich hat auch die Perspektive des Fluchthelfers Eric Yaw interessiert. Wieso hat er etwas getan, was all die anderen, die Peter davor gefragt hat, abgelehnt haben? Wäre ich selbst dazu in der Lage gewesen?
Was erzählt uns der Film in Bezug auf die gegenwärtige Realität?
Schaut man auf unsere gesellschaftliche Realität, in der gerade im Osten auf die vielen Flüchtlinge geschimpft wird, dann finde ich es wichtig, daran zu erinnern, dass es erst 32 Jahre her ist, dass von hier aus Menschen geflohen sind. Darunter waren nicht nur politisch Verfolgte, sondern viele, die einfach auf ein besseres Leben in Freiheit hofften. Jeder Mensch hat – egal welcher Kultur er angehört – die gleichen Bedürfnisse: ein friedliches, freies Leben, ohne Hunger und wirtschaftliche Nöte, in dem er sich frei entfalten kann. Dies erst einmal als Grundrecht eines jeden Menschen anzuerkennen, finde ich sehr wichtig.
Herr Spitzner trägt seine Erfahrungen heute weiter.
Amir, der im Film kurz auftaucht, musste 2015 aus dem Iran fliehen, nachdem ihn die Militärpolizei verhaftet und verhört hatte. Peter hat beispielsweise Amir bei seiner Ankunft in Chemnitz geholfen. Amir spricht mittlerweile fließend deutsch, arbeitet als Trainer in einer Physiotherapie-Praxis und hat seit Kurzem auch eine Freundin.
Wie kann man sich die Ästhetik des Filmes vorstellen?
Wir, also Thomas Beckmann, Co-Regisseur und Kameramann des Films, und ich, hatten altes Hi8-Material, das uns die Familie Spitzner zur Verfügung gestellt hatte. Daraus entstand die Idee, für die Perspektive von damals auf die Kameraästhetik der ‘80er Jahre zurückzugreifen. Dies hat sehr gut funktioniert. Für das zweite Element kam uns Peggy zur Hilfe. Peggy arbeitet als Illustratorin und hat eine ganz eigene Zeichentechnik mit Kaffee entwickelt. So kam die Idee auf, entscheidende, emotionale Momente mit Hilfe dieser Kaffeebilder nachzuerzählen und durch minimale Animation nochmal zum Leben zu erwecken. Hinzu kommen die Gespräche mit den vier Protagonisten. Wir haben alle getrennt voneinander befragt, so dass es vier verschiedene Perspektiven auf die Flucht und ihre Folgen gibt. Das, denke ich, macht die Spannung im Film aus.
Wie schauen Sie heute auf Halle?
Als ich 1998 aus Halle weggezogen bin, war noch vieles grau, ich wollte unbedingt weg. Heute komme ich sehr gern nach Halle, es hat sich vieles zum Positiven geändert. Es gibt eine rege alternative Szene, ich konnte viele tolle Menschen kennenlernen. Ich bin ein großer Freund der Peißnitz, ich freue mich, dass das alte Pionierhaus restauriert wird. Da kommen alte Kindheitserinnerungen hoch, die schön sind. Schade finde ich, dass der obere Boulevard scheinbar etwas verwahrlost, abgesehen von eins, zwei schönen Läden dort. Das finde ich verschenkt. Auch der Blick aufs Bundestagswahlergebnis, in der die AfD in Halle mit 15 Prozent drittstärkste Kraft geworden ist, macht mich als Hallenserin traurig.
Fühlen Sie sich als Ostdeutsche?
Die Welt steht mir heute offen, ich verstehe mich als Teil davon. Andererseits sage ich heute ganz selbstbewusst: Ja, ich komme aus Ostdeutschland! Es gibt hier wunderbare Leute, ich habe das Gefühl, dass die Menschen hier gegenüber Neuem viel aufgeschlossener sind. Der solidarische Gedanke, das Gemeinschaftsgefühl sind bei mir tief verankert. Ich bin meinen Eltern für ihre Wertevermittlung sehr dankbar. Umso mehr schmerzt es, wenn ich sehe, was vor allem in Sachsen und Thüringen passiert. Während man sich freut, dass die AfD bundesweit an Stimmen verloren hat, sind beide Bundesländer mehr oder weniger in blauer Hand. Ich habe das Gefühl, dass wieder einmal ein Teil von Deutschland komplett vergessen wird. Das finde ich sehr gefährlich.
Text: Mathias Schulze