Endstation Sehnsucht, 14. Januar 2023 um 19.30 Uhr und 19. Februar um 16 Uhr, Anhaltisches Theater Dessau, alle Termine unter www. anhaltisches-theater.de
Das Anhaltische Theater Dessau zeigt Tennessee Williams’ Klassiker „End- station Sehnsucht“. Der Regisseurin Mizgin Bilmen gelingt eine großartige Ins-zenierung. Dabei gibt die Schauspielerin Mirjana Milosavljevic eine Blanche DuBois, die sich ins Gemüt brennt. Eine Rezension
Ein Wispern, ein bedrohliches Brummen. Noch bevor sich der Vorhang hebt, vibriert schon eine Unruhe. Das Beklemmende wird sich im Laufe des Stückes unaufhaltsam ausbreiten. Vorweg sei es notiert: Es entwickelt sich ein toller Theaterabend. Anfangs schleicht Nebel über die Bühne, von oben brennt eine riesige Sonne, die je nach Wahrnehmung auch ein Mond sein kann: Dieses Un- getüm bietet keinen Schutz, es leuchtet aus, als heiße Sonne legt es alle fiebrigen Nervositäten und alle brodelnden Geilheiten frei, als Mond sorgt es für Schlaflosigkeit, zeigt es den zerbrechlichen Menschen in seiner Hilflosigkeit auf der Suche nach einem besseren Leben.
Eine schöne Frau mit Koffern betritt die drehbare Bühne, die einen riesigen Sandberg beherbergt. Mirjana Milosavljevic spielt Blanche DuBois. Um sie herum turnt sogleich das Testosteron, die Männer sind laut, vulgär und verschwitzt. Ansonsten gibt es nur den Treibsand. Je intensiver ein besseres Leben eingefordert wird, desto unerbitterlicher versinkt man. Sabine Mäder hat ein groß-artiges Bühnenbild erschaffen, die Weite der Spielfläche tut ihr Üb- riges. Einsam ist es im Weltall. Willkommen in der „Endstation Sehnsucht“!
Das Stück von Tennessee Williams wurde 1947 in New York uraufgeführt. Da geht es um Blanche, die aus einer aristokra- tischen Kultur stammend nun verarmt ist und bei ihrer Schwester Stella in New Orleans Zuflucht sucht. Stella lebt zusammen mit dem Arbeiter Stanley in einer kleinen Wohnung, Blanche landet mitten in der weißen Unterschicht Amerikas. Der amerikanische Traum ist hier schon längst ausgeträumt. Da liegt es nahe, dass das Stück auf die heutigen sozialen Verhältnisse, auf die Polarisierung und Entfremdung der sozialen Schichten und Klassen bezogen wird.
Doch um krampfhafte Modernisierungen geht es in der Inszenierung von Mizgin Bilmen weniger. Stattdessen wird gezeigt, was Zeitlosigkeit bedeutet. Der Schauwert ist hoch, die Inszenierung macht Allzumenschliches und Klassen-befangenheiten plastisch fühlbar. Das liegt auch an den Schauspielenden.
Bis auf Blanche verbleiben alle Figuren der Unterschicht in ihrer Eindimensionalität. Sebastian Graf spielt Stanley als burschikosen Kumpel und Ehemann. Da hat der Suff, die harte Arbeit, die Gewalt gegenüber Frauen den Status der Normalität. Cara-Maria Nagler spielt seine Frau Stella leise zweifelnd, lasziv und eigentlich auch zufrieden mit der eigenen, kleinen Welt. Tja, wenn ihr Mann trinkt und pokert, kann er schon einmal gewalttätig werden, was soll’s, so ist das eben. Nach einem Streit fällt man schnell übereinander her, Sex kann Sprachlosigkeiten kompensieren.
Die beiden Eheleute und alle anderen Figuren aus der Nachbarschaft sind letztlich nur die bewusst gestaltete einfältige Folie vor der Mirjana Milosavljevic als Blanche brillieren kann. Ein Wunder ist es, dass und wie Milosav- ljevi die gut drei Stunden und die riesige Bühne bespielen kann. Sie ist es, die den vielschichti- gen Charakter der Blanche zum Leuchten bringt. So wird der Stil des minimalistischen Realismus mit Leben gefüllt, so entsteht ein Theaterabend, der zwar mit Live-Musik, aber ohne großen technischen Schnick-Schnack zu berühren weiß.
Milosavljevic schafft es, dass das Brüchige der Blanche, diese permanente Gleichzeitigkeit von aristokratischen Standesdünkel, Abstiegsängsten und emotionaler Hilflosigkeit, bis in die letzten Reihen des großen Theatersaales zu spüren ist. Blanche ist hin und her geworfen zwischen einem Sittenkodex und ihrer brennenden Lust. Sie leidet am Verlust ihrer Jugend, sie leidet am Untergang ihrer aristokratischen Kultur, an ihrer materiellen Armut. Blanche will anziehend sein, ein gutes Leben führen. Sie hat noch das Vermögen, sich ein besseres Dasein vorzustellen. Und dann rülpst ihr Stanley, dessen grobe Animalität sie verachtet und durchaus auch bewundert, in die kulturbeflissene Seele: „Fresse halten!“.
Also spielt Milosavljevicdie Blanche mal herrisch und Liebe befehlend und mal voller Anmut und Souveränität. Also spielt Mi-losavljevic die Blanche melancholisch, machtgeil, überreizt und gefrustet. Auf Stolz folgt Selbstmitleid, auf das sinnliche Spiel mit den Männern folgt ein jäher Absturz in jene emotionalen Abgründe, die das Ticken der biologischen Uhr mit Schnaps übertönen wollen. Es ist umwerfend, wie Milosavljevic all diese Ebenen darstellen kann. Manchmal scheint es, als ob alle Ambivalenzen gleichzeitig da sind.
Hinzu kommt eine bedrohliche Atmosphäre, ständig liegt man auf der Lauer. Jederzeit kann etwas austicken, kann etwas gewalttätig eskalieren. Heiß, schwül, nervös, somnambul. Gelungen ist es, wenn die Kommunikation der Figuren an der Rampe ins Publikum gesprochen wird. Man redet, aber man spricht nicht miteinander. Die Klassenzugehörigkeit ist eine unsichtbare Mauer, undurchdringbar. Gelungen ist es, wenn die Figuren sich im Zeitlupentempo bewegen, der Treibsand lauert überall, die Beziehungen sind toxisch. Gelungen ist es, wie die Inszenierung auch mit einem leisen Humor arbeitet. Das Ende, es soll nicht verraten werden, folgt fast mit naturgegebener Notwendigkeit. Ein großer Theaterabend, eine großartige Blanche, eine wunderbare Mirjana Milosavljevic.
Text: Mathias Schulze