Torsten, 10. und 11. Januar, 7. und 8. Februar, WUK Theater-Quartier, jeweils 20 Uhr
Das Theater Aggregate, derzeit zu Gast im WUK-Theater-Quartier, zeigt dort ein Stück, das sich auf den einst berühmt gewordenen Hochstapler Torsten Schmitt aus Sachsen-Anhalt bezieht. Mathias Schulze war bei der Premiere dabei
Manchmal müssen Bekenntnisse gleich zu Beginn kenntlich gemacht werden. Der Verfasser dieses Textes kennt weder die Geschichte des gebürtigen Sachsen- Anhalters Torsten Schmitt noch dessen Buch „Besessen und Gefangen: Roman einer manisch-depressiven Erkrankung“, das 2008 erschienen ist. Auch das sich darauf beziehende Theaterstück „Torsten S.“ von Lothar Trolle, das laut Kunststiftung Sachsen-Anhalt „einen Rückblick auf 40 Jahre jüngster deutscher Geschichte aus der Sicht eines Hochstaplers erzählt“, wurde noch nicht gelesen.
Sitzt man also als Rezensent so gänzlich unbefangen im WUK Theater-Quartier, fällt sofort die derzeitige WUK-Kapitelüberschrift „Gott ist tot“ auf. „Torsten“ heißt das Stück, welches Trolles Werk inszeniert, versprochen wird ein „On-the-Road-Bericht“. Regie? Silvio Beck vom Theater Aggregate. Ein paar Assoziationen ergeben sich aus den Überschriften.
Friedrich Nietzsches (1844–1900) historische Diagnose „Gott ist tot“ war eine Bestandsaufnahme, die sich vor allem eine Frage vorlegte: Wie wollen wir leben, wenn Werte, Normen und Moralvorstellungen ihre höhere Legitimität verloren haben? Der Gedanke eines „Übermenschen“, der von den Nazis auf grässliche Weise verunglimpft wurde, hielt das Faktum fest, dass sich die künftigen Menschen selbst Werte geben müssten, dogmatische Formeln hatten ausgedient. Ist unser „Torsten“ ein Werteschöpfer wie ihn Nietzsche sich vorstellte?
Schauen wir ins Aggregate- Stück: Drei Stühle stehen auf einem schwarzen Boden, der Schauspieler David Jeker kommt mit Glatze, Hosenträgern, Lederjacke, Sonnenbrille und weißen Schuhen. Ein Gruß aus der Nachwendezeit im Osten ist sofort präsent. Die damalige Zeitenwende brachte auch diverse Glücks- und Freiheitsritter in Stellung. Welche Geschäfte waren lukrativ? Ein Pornoladen, ein Autohandel, Versicherungen?
Mit dem abgelegten Staat waren wieder einmal alte Götter gestorben. Der Glatzkopf auf der Bühne kommt ins Schwärmen, nur einmal wie ein echter Bankräuber aus dem Westen sein, nur einmal solche Verfolgungsjagden wie im Hollywood- Film erleben. Ein Aufschrei, eine damalige Kollektiverfahrung: Gebt sie endlich her, diese (West)-Bilder, die unsere Träume besetzten!
Die Schauspielenden Stefan Ebeling und Astrid Kohlhoff folgen in ähnlichen Outfits, gemeinsam werden sie zum erzählenden Chor. Wer spricht da? Ein Erzähler? Der Torsten selbst? Ach, wenn Götter sterben können, kann es auch die eigene Identität. Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?
„Torsten erlebt den Wechsel der Identitäten als Befreiungsschlag, als rauschhaften Zwang. Er jongliert mit Verabredungen, Symbolen, Glaubenssätzen und dergleichen, also dem Stoff, aus dem unsere Gesellschaft besteht“, so beschreibt es der Regisseur Silvio Beck.
Auf der Bühne entwickelt sich ein hochkonzentriertes Stück. Das dramatische Erzählen der drei Darstellenden ist voller Raffinessen. Da wird mal ein gemeinsam gesprochener Satz abrupt abgebrochen und nach ein paar Minuten vollendet. Rasante Gestik, wilde Pantomimen, Zeilupen-Szenen. Ab und an wird es dialogisch, die Blicke nehmen Kontakt zum Publikum auf.
Wie war das mit dem Ratschlag des Nazi-Opas? Wenn dir einer nicht passt, musst du ihn zuerst in die Eier und dann mit dem Knie in die Fresse hauen! Das Spiel zieht in seinen Bann. Kohlhoff, Jeker und Ebeling bekommen selbst von den voraussetzungslosesten Blicken eine Eins mit Sternchen.
Und schon landet man im DDR-Kinderheim, schon wird „Partisanen vom Amur“ gesungen, schon kommen die sadistischsten Quälereien aus den Kasernen geschwappt. Alles wird in einer atemlosen Dichte erzählt. Ein Abend für Aufmerksamkeitsjunkies. Der sprachlichen Ebene, der erzählten Story muss man beständig folgen. Ein sinnliches Verharren auf reinen Spielszenen, das eigene Welten öffnen kann, fällt schwer.
Kaum hat man die Atmosphäre der Spielenden, irgendwo zwischen flatternder Haltlosigkeit und himmelsstürmender Hybris, aufgezogen, schon hat man einen Erzählstrang verpasst. Kaum versucht man ein Torsten-Psychogramm zu erstellen, schon sind neue Theaterkniffe zu bestaunen. Da gibt es Lichtröhren auf dem Boden, da wird ein Tisch unter Kokseinfluss durch die Luft gewirbelt, da haben die drei Torstens plötzlich verschiedene Kostüme an.
Identitätszersplitterung als Folge eines gesellschaftlichen Systemabsturzes? Kaum kramt man in seinen Nachwende-Erinnerungen, schon fasziniert ein cooler Ausdruckstanz, dessen metaphorische Kraft irgendwo zwischen geilem Striptease und panischen Seelenfluchten angesiedelt ist. Musik? Bernd Jestram. Torsten wird zum Dr. Becker vom Auswärtigen Amt, zum MTV-Promoter, zum Organisator des Nato-Gipfels in Mecklenburg- Vorpommern. Der Absturz ist folgerichtig: „Wenn mein Leben schon Müll ist, wird es Zeit, dass ich mich entsorge!“
Alles das, was das Theater Aggregate richtig macht, all die beeindruckende Spiellust der Schauspielenden formt sich zu einem sehenswerten Action-Spektakel, das zu einem Studium des Falles Torsten Schmitt einlädt. Was machen wir mit unserer Selbstverwirklichung, wenn nur noch die individuelle Perspektive zählt? Im intensiven Aggregate-Stück muss man sich als Rezipient seine Assoziationsräume erkämpfen. Verlangt wird geistige Hochleistung. Ist das ein Lob oder eine Kritik? Entscheiden Sie selbst! Gott ist tot, nehmen wir uns die Kraft, eigene Werte zu schöpfen!
Text: Mathias Schulze