Angela Baumgart, 8. November, Volksbühne, 19.30 Uhr
Angela Baumgart, Jahrgang 1963, kennt man in Halle als Bühnen- und Kostümbildnerin. Nun hat sie das Buch „Ich war ein Nebelkind“ über familiäre Verwerfungen im 20. Jahrhundert geschrieben. Sie wird es am 8. November in der Volksbühne am Kaulenberg vorstellen. Der FRIZZ hat Frau Baumgart vorab zum Interview gebeten
Warum macht sich eine Bühnenund Kostümbildnerin die Mühe, ein Buch zu schreiben?
Bevor ich mit meiner bildkünstlerischen Arbeit am Theater begann, war ich eher den Worten und Geschichten zugeneigt, schrieb als Jugendliche Gedichte und Kurzprosa, wollte Germanistik studieren, was mir in der DDR verwehrt blieb. Nach der Wende gelang mir nach mehreren beruflichen Umwegen der Einstieg am Theater. Ich landete durch einen glücklichen Umstand in der Abteilung Bühnenbild, holte ein Studium nach und wandte mich der Ausstattung von Geschichten zu, für das Schreiben blieb keine Zeit.
Und nun aber sogar ein Roman über Ihre Mutter? Ja, ein Roman über meine Mutter bereitete sich in meinem Unterbewusstsein über bestimmt zwanzig Jahre vor und weitete sich auf sämtliche Familienmitglieder der mütterlichen Seite über drei Generationen aus. Ausgelöst durch meine Gefühle von Heimatlosigkeit und Unangebundensein, begann ich in der Familiengeschichte zu forschen und fand viele Ereignisse von Leid und Trauer, aber auch von Mut und Stärke, die erzählt werden wollten. Am Ende sind es über dreihundert Seiten geworden, die zeigen sollen, wie uns unsere Familiengeschichte prägt, was unser gegenwärtiges Leben mit unseren Vorfahren zu tun hat.
Ein Motto der Veranstaltungsreihe „Ahnen sind hipp! Geschichten aus anderen Generationen“ an der Volksbühne am Kaulenberg ist jenes, wonach ohne Wurzeln keine Flügel wachsen können. Welche Art der Wurzelarbeit steuert Ihr Buch bei? Können dadurch Flügel wachsen, um Antisemitismus, Rassismus, Menschen- und Grundgesetzfeindlichkeit hinter sich zu lassen?
Nur wer sich selbst kennt, kann andere verstehen. Um sich selbst verstehen zu können, muss man noch ein paar Schritte zurückgehen in der Betrachtung. Man ist nicht nur genetisch, sondern auch emotional geprägt durch seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Die Bibel, die ich als geronnene Menschheitserfahrung verstehe, spricht schon im Alten Testament über das, was wir seit etwa zwanzig Jahren wiederentdeckt haben: die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Dort heißt es beispielsweise: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und die Zähne der Söhne sind stumpf geworden.“
Und das bedeutet übersetzt?
Das Unglück und das Glück werden über Generationen weitergegeben. Beim Glück muss man nicht viel aufarbeiten, aber beim Unglück, was einhergeht mit Leid, Schuld und Scham, ist Aufdeckungsarbeit notwendig. In meinem Familienroman geht es um den Zweiten Weltkrieg, um dessen Auswirkungen auf die vielen kleinen Leute, die Hitler gewählt oder nicht gewählt haben.
Eine Zahl von ca. sechs Millionen ermordeten Juden oder ca. zwölf Millionen Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten: Eine leblose Zahl. Wenn ich aber dieser Zahl eine lebendige Geschichte am Beispiel einer Familie hinzufüge, wird es anschaulich und fühlbar für das menschliche Empfinden und zeigt, wie sehr das letzte Jahrhundert mit seinen zwei großen Kriegen bis in unsere Zeit, in unsere Seelen hineinwirkt.
Wie sollte man damit umgehen?
Wem es gelingt, sich emotional mit den Auswirkungen des Krieges auf seine Familie auseinanderzusetzen, Empathie mit sich selbst und den anderen zu entwickeln, dem sind Feindschaft und Hass zuwider, der wird alles für ein friedliches Zusammenleben tun wollen. Mein Vater, der insgesamt acht Jahre im Krieg und in Gefangenschaft war, sagte im Alter beim Anblick seiner spielenden Enkelkinder auf einer grünen Wiese: „Dieser schöne Frieden!“ Das können wir uns alle zu jeder Minute verdeutlichen.
Vererbte Traumata. Man kann einwenden, dass durch diese Fokussierung konkrete Lebensumstände, persönliche Verantwortungen und gesellschaftspolitsche Rahmenbedingungen zur Randnotiz degradiert werden.
Auf gar keinen Fall ist die Familiengeschichte und ein vererbtes Trauma alleiniger Auslöser für Denkweisen und Handlungen, all das ist immer multifaktoriell bestimmt. Was sie gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen nennen, wirkt natürlich genauso auf uns ein.
Hat sich Ihre Erinnerungsarbeit, egal, ob allein oder mit der Familie, nach ‘89 geändert?
Meine Erinnerungsarbeit begann nicht unmittelbar mit der Wende, da hatte ich, wie so viele andere, mit den neuen Lebensumständen zu tun. Für meine Eltern aber, die beide aus den heute zu Polen gehörenden ehemaligen deutschen Ostgebieten stammten, eröffneten sich neue Welten. Sie konnten sich nun öffentlich dazu bekennen, Vertriebene zu sein, bekamen noch von der letzten DDRRegierung 4.000 DM – angelehnt an den westdeutschen Lastenausgleich.
Vor allem konnten sie zu den Heimattreffen ihrer Dörfer und Städte fahren, sich endlich zwanglos mit noch verbliebenen Familienmitgliedern, die es in die Bundesrepublik verschlagen hatte, treffen. Und sie konnten, problemloser als zu DDR-Zeiten, in ihre Heimatorte in Polen fahren. Das alles hat viel beigetragen zur Versöhnung auf beiden Seiten.
Im günstigsten Fall wird der Abend in der Volksbühne ein Gesprächsabend mit dem Publikum, oder?
Die Schauspielerin Cornelia Heyse wird zusammen mit mir ein paar Textpassagen lesen, dazwischen gibt es Musik. Moderiert von Raimund Müller lade ich zum Gespräch ein. An den Reaktionen auf mein Buch habe ich gemerkt, dass viele Menschen in meinem Alter die Erfahrung Nachkriegskind zu sein, teilen. Die Beschreibungen meiner häuslichen Atmosphäre in den 60er und 70er Jahren kommt ihnen vertraut vor.
Text: Mathias Schulze