Lievalleen, 4. Oktober, Puschkino, 19 Uhr, in Anwesenheit von Peter Wawerzinek und Regisseur Steffen Sebastian, puschkino.de
Peter Wawerzinek stellt Anfang Oktober im Puschkino seinen Film „Lievalleen“ vor. Darin werden unglaubliche Dinge verhandelt: Der heutige Schriftsteller und seine Schwester wurden 1957 als Kleinkinder von den Eltern, die in den Westen flüchteten, in der Wohnung zurückgelassen.
Können Sie heute Ihren Eltern verzeihen?
Verzeihung ist eine der menschlichen Regungen, die man jedem Menschen wünscht, sei es noch so schlimm, was er einem anderen Menschen antut – sagen wir, bis zu einem Grenzpunkt im Herzen. Und der ist bei mir mehrfach überschritten. Was die Eltern uns, meiner Schwester und mir, angetan haben, ist unverzeihlich, sie können von Glück reden, dass ich keinerlei Rachegefühle hege. Meine Schwester Beate und mich allein der Todesgefahr ausgesetzt zu haben, ist schlimm. Dass sie in die Psychiatrie abgeschoben wurde und dort dahin kampierte, steigert das Maß an Wut und Ohnmacht noch einmal um ein Vielfaches.
Als die Eltern gingen, waren Sie und Ihre Schwester drei und zwei Jahre alt. Sie erinnern sich?!
Welche Erinnerungen sind das – allein mit der Schwester in der Wohnung? Nein, daran kann man sich mit dem Verstand nicht erinnern, es ist wie beim kleinen Prinzen: Man fühlt es mit dem Herzen. Ich muss sagen, ich freue mich darüber, meiner Schwester nach Ansicht der Zeitzeugen das Leben dadurch gerettet zu haben, dass ich sie unermüdlich mit Wasser versorgt habe. Ich war an ihrer Seite in den fünf Tagen, also schon ihr Lebensretter. Es sind bestimmte Ängste und verschiedene Auswirkungen bei mir zu bemerken, die ganz sicher darauf zurückgehen. Aber die schleppen wir eben mit uns herum. Manchmal ist es gut, manchmal fragen sich die Leute: Was ist los mit dem?
Der Film verknüpft dokumentarische und gespielte Szenen. Warum diese Form?
Bei dem Thema ist es ungewiss gewesen, ob die Menschen, die wir filmen und interviewen und ins Bild setzen, dranbleiben und nicht zurückziehen. Das ist zu riskant gewesen, ich habe also viele Texte aus dem Interview mit meiner Schwester, beispielsweise im Gespensterwald und am Meer, gedreht, um sie im Kasten zu haben. Ich wollte zudem ein Bild meiner Mutter, der Rabenmutter, im Film haben. Weswegen ich auf die Idee kam, sie spielen zu lassen – in schöner klassischer Form. Ein Mann spielt sie, mein guter Freund Schortie Scheumann. Das war genau der richtige Gedanke. Und dass ich mich selbst als Kind in verschiedenen Phasen meines Lebens spiele, macht den Film so besonders – finde ich.
Woran arbeiten Sie gerade?
Wir haben vor zehn Wochen unseren Vater gefunden. Es kommen Halbgeschwister hinzu. Ich reise mit Beate zu ihnen und schreibe wieder fleißig mit, bin der Reporter in eigener Familienangelegenheit.
Text: Mathias Schulze;