Der kastrierte Klassiker: Goethes Erotica, Lesung mit Jens-Fietje Dwars und Romy Gehrke im Literaturhaus Halle, Grüner Salon, 22.6. 19 Uhr, Eintritt: 8 (erm. 5) Euro, www.dwars-jena.de
Unter den Dichtern deutscher Sprache ist Goethe der größte, „Selige Sehnsucht“ gehört zu den schönsten Gedichten der abendländischen Literatur. Spätestens seit der ersten Italien-Reise gilt der Weimarer Tribun als gewaltiger Erotiker. Sein sinnliches Werk war umwittert und umstritten. Jens-Fietje Dwars und Romy Gehrke stellen es am 22. Juni im Literaturhaus vor
Goethes Erotica“, herausgegeben von Jens-Fietje Dwars, mit den herrlichen Zeichnungen von Gerd Mackensen versehen, sammelt die einschlägigen Texte des Großen entlang seiner langen Lebensschnur. Gemeinsam mit der Schauspielerin Romy Gehrke geht der Jenenser der Spur des Großen nach, fragt nach, gerät mit seiner Perfomancepartnerin in Widerspruch. Von allen deutschen Dichtern ist JWG (Abb.) der berühmteste.
Doch welcher Goethe? Der marmorne Geheimrat, dessen Werkausgaben zu lesen mehr Last als Lust ist? Oder der Spötter des Sturm und Drang, der ein Bürgerschreck war? Goethe ist nicht nur der meistzitierte, er war auch jahrzehntelang der meistzensierte Dichter deutscher Sprache. Eben weil er als Dichterfürst galt, durfte sein Werk nichts Unschickliches enthalten. Und so wurden seine erotischen Texte unterdrückt, aus den Werkausgaben verbannt und die Manuskripte verstümmelt. Wovor hatte man solche Angst?
Goethe verstand sich als Heide, sein Bekenntnis zur freien Sinnlichkeit verband er mit messerscharfer Kritik an christlich-frömmelnder Doppelmoral. Das verleiht seinen Texten Sprengkraft – bis heute. Dwars ist der Spur der lange unterdrückten „Erotica“ nachgegangen. Sie offenbart einen überraschend lebendigen Goethe, der die Klaviatur der Liebe wie kein deutscher Autor vor ihm zur Sprache brachte: vom Erwachen des Begehrens bis zur entfesselten Massenorgie. Wurde der Klassiker einst kastriert, wirft man ihm heute Sexismus und Frauenfeindlichkeit vor. Stimmt das?
Ab 19 Uhr wird im Literaturhaus Halle aus Dwars’ Edition der „Erotica“ gelesen. Schauspielerin Romy Gehrke gibt dabei Paroli: Sie leiht nicht nur den weiblichen Passagen ihre Stimme, sondern streitet mit dem Herausgeber über die Texte. Schreiben, lesen Männer und Frauen anders? Was ist Erotik, was Pornografie? Leben wir wirklich in Zeiten befreiter Sinnlichkeit oder nicht eher in einer Epoche neuer Verklemmtheit?
Den sich Interessierenden erwartet ein so vielgestaltiger wie sinnenreicher Abend. Dwars ist der aktuelle Walter-Bauer-Preisträger und verdienstvolle Chef des „Palmbaum“, Erfinder von drei Buchreihen. Romy Gehrke arbeitet heute als Redakteurin, für den MDR zeichnet sie für eine Reihe pointierte Filmessays verantwortlich.