Geneigte Leser*,
in welch seltsamen Zeiten wir eigentlich leben, lässt sich ganz gut Phänomen Wokeness ablesen. Wokeness, längst zum Kampfbegriff geworden, markiert heute so ziemlich genau die Demarkationslinie zwischen rechts/ links und konservativ/progressiv. Libertär versus illibertär passt auch ganz gut. Interessanterweise also zwischen zwei Zuschreibungen, die es schon immer gab. Was soll also die Aufregung? Wieso diese extrem hohe Reizbarkeit auf beiden Seiten? Zum einen hat sich der Graben der Unversöhnlichkeit, der genau zwischen beiden verläuft, in den letzten Jahren deutlich vertieft. Man könnte auch sagen, der Graben der Intoleranz. Wo ist es hin, das gute, alte Leben-und-Leben-lassen? Wieso meinen sich Mitmenschen auf den Sack gehen zu müssen, nur weil es dem einen wichtig ist, vegane Schuhe zu tragen und der andere nicht genug fetttriefendes Zeug auf seinen Grill legen kann? Ist alles nicht neu. Gab es schon immer. Im Gegenteil, in toleranten Zeiten galt es als Bereicherung, unterschiedlich zu sein. Wir sollten schleunigst wieder dahin zurückkehren. Ich möchte nicht vorgeschrieben bekommen, wie ich zu leben habe! In jeder Hinsicht. Das ist eine Form von Freiheit, die sich die Menschen gerade in diesem Land nicht ohne Grund erkämpft haben. Das Gegenteil davon, ist das Gegenteil von Freiheit. Man nennt es Totalitarismus. Der Weg dahin – und das ist der andere große Aspekt in diesem Kontext – versteckt sich in den Algorithmen der Sozialen Netzwerke. Sie sagen: „Hasst Euch, prügelt Euch, kotzt Euch an!“ Alles erlaubt: „Hauptsache ihr spaltet Euch!“ Echtes Teufelszeug. Sprengstoff für jede offene Gesellschaft. Indes, was tun? Irgendein Patentrezept gibt es nicht. Und auf das europäische Facebook zu warten, ist eine Illusion. Aber, sich darauf zu einigen, dass hier ein Großangriff auf die freie Art zu leben, läuft, wäre schon mal ein Anfang. Online nicht mehr rumzupöbeln und stattdessen mal aus der eigenen Blase herauskommen um zu schauen, wie es den anderen so geht, ein weiterer Schritt. Jeder von uns kann etwas tun, auf beiden Seiten. Es geht darum, frei zu leben. Nicht mehr und nicht weniger. Venceremos!
Eike Käubler
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir in unseren Texten auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d).
