Barbara Thériault „Abenteuer einer linkshändigen Friseurin“, erhältlich unter: www.editionueberland.de
Die kanadische Soziologin Barbara Thériault, die heute in Berlin forscht, war 2022 die Stadtschreiberin Halles und in den Friseursalons der Stadt unterwegs. Jetzt ist ihr Buch „Abenteuer einer linkshändigen Friseurin“ beim Verlag edition überland erschienen. Grund genug, bei Thériault nachzufragen
Hallo, Barbara Thériault, Was haben Sie während ihres Halle-Aufenthaltes für eine Stadt gesehen?
Oft habe ich den Eindruck gehabt, dass ich schnell, schon nach einem Glas Bier oder einem Rotkäppchen, einen seltenen Einblick in das private Leben – Beziehungen, Sex, Politik – von mir unbekannten Menschen bekam. Manchmal dachte ich mir, dass ich eine gute Soziologin geworden bin, weil sich mir die Menschen auf erstaunliche Weise geöffnet haben. Aber so war es nicht! Diese Offenheit hatte womöglich nichts – oder nur begrenzt – mit meinen Kompetenzen als Soziologin zu tun. Viele Leute sind einfach so: Sie reden gern, manchmal filterlos. Klar, das lässt sich nicht auf Halle beschränken, aber es scheint eine hiesige Angewohnheit zu sein. Man kann so oder so dazustehen. Mir ist diese Ungezwungenheit sympathisch. Aber sie ist nicht ganz ungefährlich …
Was hat Halle Sie noch gelehrt?
Ich habe in verschiedenen Salons und Barbiershops in Halle gearbeitet. Bei Lesungen fragte man mich gelegentlich, wo ich am liebsten war. Als ich „bei den Barbieren“ antwortete, richtete sich das nicht gegen Friseurinnen. Ganz im Gegenteil. Nur war es so, dass der Kontakt mit den Kollegen syrischer Herkunft mir die Augen geöffnet hat.
Inwiefern?
Alltagsrassismus, aber nicht nur. Als ich bei einer Lesung an der Ostsee war, ist mir aufgefallen, dass fast alle Menschen dort weiß waren und relativ reich gewesen sein müssen. Da dachte ich: So ist Halle nicht! In der soziologischen Literatur oder in politischen Debatten denkt man getrennt: die (Ost-)Deutschen und die anderen. Die Kollegen aus Syrien machen es auch, wenn sie von den „Deutschen“ reden. Man muss aber die Stadt zusammen denken. So ist Halle heute. Die arabische Sprache gehört auch zum Sound der Stadt. „Es gibt eine hallesche Ungezwungenheit, die mir sympatisch ist.“
Im Klappentext Ihres Buches heißt es, dass durch ihre Arbeit als Friseurin „soziologische Reflexe“ ins Wanken gekommen sind: Welche?
Friseurinnen und Soziologinnen sind in der Regel gute Beobachterinnen. Ihr Blick bleibt aber jeweils woanders hängen. Ich sehe heute Sachen, die vor meiner Ausbildung für mich nicht existierten oder mir egal gewesen wären. Wenn ich heute bei einem Vortrag in der Universität sitze, nehme ich Platz in der ersten Reihe. Ich möchte die unrasierten Nacken meiner Kollegen nicht sehen. Ich denke immer, dass sie sich dringend rasieren sollten. Als Soziologin übt man sich in einen distanzierten Blick, man achtet auf die soziale Herkunft. Als Friseurin ist man in vielen Fragen pragmatischer. Man denkt auch anders über Schönheit und Ästhetik, weil man einfach weiß, was geht und was nicht geht.
Sie wollten dem Alltag der Menschen so nah wie möglich sein: Konnten Sie bei dem berühmten Smalltalk während des Haareschneidens einen Blick auf die Dinge werfen, die die Hallenser und Hallenserinnen bewegt?
Man geht nicht in den Friseursalon, um über Politik zu reden. Das schickt sich nicht. Es zerstört die Geselligkeit. Dafür muss man in die Kneipe oder woanders hingehen. Vorhin sagte ich, dass man die Menschen der Stadt in ihrer Vielfalt zusammen denken sollte. So ist das auch mit den Gesprächsthemen. Sie unterscheiden sich von einem Ort zum anderen: da der Umgang mit den Behörden im Barbiershop oder der Urlaub im Friseursalon am Rande der Stadt, dort der Antisemitismus in meiner linken WG. Und überall sind Beziehungen zwischen Männern und Frauen ein konstantes Gesprächsthema. Das alles, und noch viel mehr, macht eine Stadt aus.
Machen Sie uns aufs Buch neugierig: Was passiert zwischen den Buchdeckeln? Was ist das für ein Buch geworden?
Das Buch besteht aus „soziologischen Feuilletons“: 37 kurze Abenteuer, zwischen Literatur und Soziologie. Jeder einzelne Text beruht auf einer Beobachtung. Ausgangspunkt ist manchmal ein Detail (ein Strähnchen oder eine überdimensionierte Brille), manchmal steht eine Situation im Mittelpunkt. Das kann eine Andacht, das Hospitieren von Friseurinnen in einem Barbiershop, eine öffentliche Lesung oder weibliche Kundschaft in einem Barbiershop sein. Mit meinen Kunden und Kundinnen schauen wir gemeinsam auf das Geschehen im Salon. Wir nehmen einiges wahr und können uns nicht mehr so viel vormachen. Insofern sind die Abenteuer oft kleine Attentate auf die Gemütsruhe.
Einige Texte …
… haben Auffälligkeiten zum Gegenstand, an denen der Blick länger haftet und die die boshafte Zunge lockern. Letztere weisen auf eine ästhetische Norm hin. Als meine Verlegerin das Buch gelesen hat, schrieb sie mir: „Wow, es ist ein soziologisch-feuilletonistisches Psychogramm der Stadt.“Je länger mein Aufenthalt in der Stadt wurde, je unheimlicher wurden manche Beobachtungen. Um diese Erfahrungen wiederzugeben, wurden die Texte chronologisch geordnet. Durch die unterschiedlichen Salons und deren jeweiligem Publikum entsteht eine menschliche und ästhetische Vielfalt. Das Bild ist kantig. Deshalb stellt das Cover des Buches die Stadt als expressionistische Kulisse dar. Es geht auch um sinnliche Eindrücke und unmittelbares Erleben, um Körpernähe, um die nicht sexuelle Intimität mit Fremden, die für das Friseurhandwerk typisch sind. Es geht um Momente, die man als besonderes angenehm wahrnimmt, aber nicht nur. Manche Texte stehen damit im Kontrast zu jener Literatur über Haarsalons, die stets das Schöne und das sinnlich Angenehme hervorhebt.
Text: Mathias Schulze