Begegnungs- und Beratungs-Zentrum „lebensart“ e.V., Beesener Straße 6 in Halle, http://www.bbz-lebensart.dewww.bbz-lebensart.de
Der Verein „lebensart“, ein Begegnungs- und Beratungs-Zentrum für geschlechtlich-sexuelle Identität in der Beesener Straße 6, feiert dieser Tage 30 Jahre Bildungsarbeit für Halle und die südlichen Landkreise Sachsen-Anhalts. Das FRIZZ-Magazin hat bei Gründungsmitglied Ants Kiel nachgefragt
Weltweit tobt ein Kulturkampf. In Polen haben beispielsweise PiS-Partei und katholische Kräfte LSBTI-freie Zonen definiert, das heißt sie behaupten, dass es dort keine Lesben, Schwulen, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen gibt. Wie besorgt schauen Sie in die deutsche Zukunft?
Ich bin vorsichtig optimistisch, dass es ein Zurück in die bleiernen Jahrzehnte vor über 40 Jahren oder gar in die lebensgefährliche Zeit von vor 80 Jahren nicht geben wird. Wir haben insbesondere in Bezug auf die Anerkennung und Akzeptanz nicht-heterosexueller Menschen ein Fundament in der Gesellschaft, welches nicht so einfach zu entwurzeln ist. Zudem sehen Medizin und Sexualwissenschaft nicht nur Bi-, Pan- und Homosexualität als natürliche Varianten des Begehrens, sondern auch Inter- und Transgeschlechtlichkeit generell nicht mehr als Störungen an.
Das sind Fakten, aber Weltbilder wiegen leider ebenso schwer.
Diese Fakten und die schwierige Situation nicht weniger Lesben, Schwuler, Bisexueller, trans- und intergeschlechtlicher Menschen erkennen erzkonservative, weit rechts sowie fundamentalistisch-religiös eingestellte Menschen nicht an – sie wollen auch hierzulande wieder Unsichtbarkeit, Entrechtung und eine Bildung der Einfalt. Wichtig wird zum Beispiel sein, dass diese Kräfte keine Regierungsämter – egal auf welcher Ebene – erlangen sowie Abwertungen und Diskriminierungen nicht geduldet werden.
Seit mehr als 30 Jahren leisten Sie Bildungsarbeit. Was hat sich in dieser Zeitspanne am nachhaltigsten verändert?
Da in der DDR ab Mitte der 1980er Jahre eine sachgerechte Aufklärung über Homosexualität begann, konnten wir damals auf die Aufgeschlossenheit von Schülerinnen und Lehrkräften bauen. Während in den 1990er Jahren unser alleiniger Fokus nicht nur in der Bildungsarbeit auf sexuelle Orientierungen, insbesondere der Aufklärung über Homo- und Bisexualität lag, sind unsere jetzigen Angebote inhaltlich, methodisch und von den Zielgruppen her breit zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt aufgestellt. Trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Menschen haben sich über die Beratung sowie bei Veranstaltungen an uns gewandt. Einige von ihnen sind auch bei uns aktiv.
Ehrenamtliche werden bei Ihnen entsprechend angeleitet. Was sind die entscheidenden Faktoren für den Umstand, dass „Deutschland 2021“, im Vergleich zur Vergangenheit, toleranter geworden ist?
Das heutige höhere Niveau an Toleranz und Akzeptanz gründet sich auf vielen Ebenen – deutlich mehr Vorbilder und Möglichkeiten des Austausches, der leichtere Zugang zu Informationen und Angeboten sowie hilfreiche Bemühungen von Kultur, Medien, Politik, Eltern und Bildung. Viele leisten hier trotz mancher Defizite einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für eine offene, entspannte und aufgeklärte Gesellschaft. Und zu erleben, wie heute auch Seniorinnen bei Veranstaltungen auftauen, interessiert zuhören und mit Dankbarkeit reagieren, ist eine Erfahrung, die ich noch häufig machen möchte.
Wie sehen Ihre Wünsche aus?
Eine der Voraussetzungen für eine entspannte und offene Gesellschaft ist, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu groß ist und prekäre Verhältnisse eingedämmt werden. Ich wünsche mir, dass noch mehr Lehrkräfte, Schulverantwortliche, Einrichtungen, Unternehmen, bis hin zu Mitarbeitenden der Altenhilfe, ihre Scheu vor geschlechtlich-sexueller Vielfalt überwinden. Wir bieten gern Schulungen, Vorträge und Workshops an.
Was halten Sie vom Gendern?
Eine geschlechtergerechte Sprache kann erst mit einer Sensibilisierung zur Geschlechtervielfalt einhergehen. Hier wünsche ich mir Geduld und Gelassenheit von Befürworterinnen, zu denen ich auch gehöre. Wichtig ist mir, dass das Grundgesetz endlich um einen expliziten Schutz vor Diskriminierung in Bezug auf die sexuelle Identität ergänzt wird. Nicht-heterosexuelle Menschen sind die einzige große Verfolgten-Gruppe des Faschismus, die nicht durch die Verfassung geschützt ist. Zudem sollte die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrages für nicht-binäre und transgeschlechtliche Menschen wie in anderen Ländern selbstbestimmt erfolgen – das alte Transsexuellengesetz muss weg.
Sie sind erneut bei Ihren Wünschen angelangt. Fahren Sie bitte fort.
Von den queeren Organisationen und Aktiven wünsche ich mir noch mehr entspannte und arbeitsteilige Kooperation, denn auch hier ist manchmal der Ellenbogen statt Rücksichtnahme ausgeprägter. Und vielleicht erlebe ich es noch, dass in Halles Innenstadt ein Regenbogenhaus, ein Zentrum für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt entsteht, in dem mehrere Organisationen Platz finden und welches mit seinen Angeboten auf die ganze Region und darüber hinaus ausstrahlt. Und einen meiner privaten Wünsche will ich auch offenbaren: Ich möchte irgendwann ein Wochenende in Heerenveen verbringen und bei einem Eisschnelllauf-Großereignis dabei sein. Mein Vorname ist von einem Olympiasieger dieser Sportart und ich bewundere die alle anerkennende Fankultur insbesondere im Mekka des Eisschnelllaufs sehr.
Haben Sie ein Lebensmotto?
Leben und leben lassen. Beschwer‘ dich nicht über die Dunkelheit, zünd‘ ein Licht an.
Text: Mathias Schulze