Kai Michel und Carel van Schaik: „Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen“, 7. Februar, Literaturhaus Halle, 19 Uhr, www.literaturhaus-halle.de
Kai Michel und Carel van Schaik stellen ihr Sachbuch „Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen“ im Literaturhaus vor. FRIZZ-Redakteur Mathias Schulze hat Kai Michel, den man auch als Autor des Buches „Die Himmelsscheibe von Nebra“ kennt, zum Gespräch gebeten
„Krisen, Kriege und Katastrophen dominieren die Nachrichten. Höchste Zeit für eine evolutionäre Aufklärung. Wir sind nicht schuld. Wir müssen uns nur endlich selbst verstehen!“ So wird Ihre Lesung angekündigt. Was haben wir denn bisher falsch verstanden?
Sie unterschlagen die Hauptsache: Uns wird beständig eingeredet, wir seien selbst schuld daran, wenn wir das Gefühl haben, mit dem Leben stimme etwas nicht. Wir müssten uns nur mehr anstrengen, achtsamer werden. Eine ganze Optimierungsindustrie will uns fit machen. Aber der Fehler liegt nicht bei uns. Tatsächlich leben wir in einer zutiefst seltsamen Welt, die oft alles andere als menschenwürdig ist. Was als normal gilt, ist nicht selten eine enorme Verirrung. Um das zu verstehen, braucht es aber die ganz große Perspektive. Und die liefern mein Co-Autor, der Anthropologe Carel van Schaik. und ich: Wir müssen die komplette menschliche Evolution in den Blick nehmen, um zu verstehen, auf welchen Abwegen wir uns befinden. Ein eindrückliches Beispiel: Ursprünglich war das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Die Männerdominanz hat sich erst in den letzten 5.000 Jahren durchgesetzt. Das ist gerade ein Prozent der Menschheitsgeschichte. Die restlichen 99 Prozent indes haben unsere Psychologie geprägt – und die waren weitgehend gleichberechtigt. Also ist es eine ganz natürliche Reaktion, wenn Frauen gegen Diskriminierung rebellieren.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen habe, muss aber sagen, dass mir in der Ankündigung der Verzicht auf politische Kategorien aufgefallen ist.
Es ist ein durchaus politisches Buch. Wir zeigen etwa, dass das Hauptproblem der Demokratie daran liegt, dass die Demokratisierung längst nicht abgeschlossen ist. Nur die Herrschaft wurde ansatzweise demokratisiert, nicht aber der Reichtum – und so leben wir in einer zutiefst ungerechten Welt größter sozialer Ungleichheit. Doch auch das Privateigentum ist eine erstaunlich junge Erfindung – wie auch die auf der Vorstellung ewiger Treue basierende Monogamie. Doch unser Hauptziel ist, das Wissen zur Verfügung zu stellen, damit alle selbst die für sie passenden Konsequenzen ziehen können.
Machen uns die Verhältnisse zu dem, was wir sind? Oder gibt es einen menschlichen Wesenskern, der den Kapitalismus, geschaffen hat? Ist es die Kultur oder die Biologie?
Das ist ein uralter Streit, der längst in die Mottenkiste gehört. Wir haben in unseren Büchern „Tagebuch der Menschheit“, „Wahrheit über Eva“ und jetzt „Mensch sein“ das Modell der drei Naturen entwickelt, um zu zeigen, dass wir prismatische Persönlichkeiten sind: Wie das Licht erscheinen wir auf den ersten Blick homogen, tatsächlich stecken in uns ver schiedene Dimensionen unterschiedlichen Alters. Unsere erste Natur ist uralt und bei allen Menschen gleich. Das sind die Intuitionen, Gefühle und Handlungsmuster, die als Anpassungen an die Welt der mobilen und egalitären Jäger und Sammler entstanden sind, in der sich unsere Evolution vollzogen hat.
Dazu gehört …
… der Sinn für Fairness, unser höchst kooperatives Wesen oder die Liebe zu unseren Kindern. Alles, was wir von klein auf gelernt haben, ist uns zur zweiten Natur geworden. Das sind rein kulturelle Prägungen, das was „die Verhältnisse“ mit uns gemacht haben. Das ist von Zeit zu Zeit, Kultur zu Kultur oder auch je nach sozialer Schicht verschieden. Die dritte Natur ist unsere Vernunft-Natur: All das, von dem wir wissen, dass es aktuell vernünftig wäre, es zu tun. Die ganzen Neujahrsvorsätze gehören dazu. Das Spannende: Für Konflikte sorgt in erster Linie unsere zweite Natur, weil die kulturellen Prägungen unterschiedlich sind, aber uns eben ganz natürlich erscheinen – und wir glauben, sie unbedingt verteidigen zu müssen.
Lassen sich aus Ihrem Buch Handlungsempfehlungen ableiten?
Die naheliegendste: Wir sind eine hypersoziale Spezies. In besitzlosen Zeiten waren die guten Beziehungen zueinander die Lebensversicherung. Entsprechend leiden wir unter Vereinsamung und ständiger Konkurrenz. Das macht uns anfällig für die Kompensationsangebote durch Konsum und die angeblich „sozialen“ Netzwerke. Mega-Konzerne beuten unsere sozialen Defizite bestens aus. Entsprechend sollten wir unsere Kraft in reale und verantwortungsvolle soziale Beziehungen, in den direkten Austausch, das gemeinsame Gespräch setzen. Das machen wir auch bei unseren Veranstaltungen: Wir freuen uns auf das Gespräch mit dem Publikum.
Im Zuge Ihrer mit dem Landesarchäologen Harald Meller geschriebenen Bestseller „Die Himmelsscheibe von Nebra“ und „Das Rätsel der Schamanin“ waren Sie oft in Halle. Was sehen Sie für eine Stadt?
Ich bin seit zwanzig Jahren mehrere Male im Jahr in Halle, empfinde es als eine extrem spannende Stadt. Ein beträchtlicher Teil meiner Bücher ist hier in Cafés entstanden. Dieser Geschichtsreichtum, das gilt für ganz Sachsen-Anhalt, die Gleichzeitigkeit vieler vorgeschichtlicher und historischer Ebenen, ist phänomenal. Jeder Flecken Erde hat die erstaunlichsten Geschichten zu erzählen. Ich lebe in der Schweiz und weiß, wie viele Menschen nach Halle gereist sind, weil sie nach der Lektüre unserer Bücher unbedingt hinwollten. Die sind alle nicht enttäuscht worden. Vermutlich sollte ich mir endlich mal ein Zimmer hier suchen.
Text: Mathias Schulze