Paula Paula und Karl Die Große, 9. Juni, Objekt 5, 20 Uhr, www.paulapaulamusik.de
Die Berliner Sängerin und Songschreiberin Marlène Colle hat mit ihrer Band „Paula Paula“ das schöne Debütalbum „schade kaputt“ vorgelegt. Folktunes treffen auf Punk, barocke Celloarrangements treffen auf eine Wand voll Synthies, wütend-politischer Aktivismus trifft auf zart-gebrochene Hippie-Herzen, und deutsche, englische und französische Texte treffen eine wohldosierte Dosis Humor. Das Ganze klingt so intelligent und frisch, dass man sich schockverlieben kann. Grund genug, bei Marlène Colle nachzufragen
Liebe Marlène Colle, Sie sind im Vorprogramm von Gisbert zu Knyphausen und Agnes Obel aufgetreten. Das ist schon einmal eine Wucht. Aber den ganzen Laden (erste eigene Platte, erste eigene Tour) selbst zu stemmen, ist noch einmal eine andere Kategorie. Welche Zweifel hegen Sie? Schon aufgeregt? Schon mental erschöpft?
Regelmäßig! Ich muss definitiv aufpassen, dass ich vor lauter Booking, Tourmanagement und Labelarbeit nicht ausbrenne. Aber die Tour steht vor der Tür, und dafür lohnt es sich immer! Außerdem habe ich viel Unterstützung erhalten. Von der Initiative Musik, von den tollen Musiker und Musikerinnen, die Lust hatten, sich auf das Abenteuer einzulassen mit mir ins Studio und auf Tour zu gehen. Von so vielen Freundinnen und Fans, die aus dem Nichts heraus schrieben und meinten, wie viel es ihnen bedeutet, mir bei diesem mutigen Schritt zuzusehen. Beim Release der ersten Single wurde ich komplett unvorbereitet von Olli Schulz und Till Reiners in die Medien gebracht. Da hört man doch dann nicht auf, oder?
Albumrezensionen, Konzertberichte, Groupies, Hotelfrühstücks, musikalische Ekstasen. Wie sehen denn Ihre Erwartungen genau aus – jetzt so kurz vor dem Start? Konzerte zu spielen ist wie das Erntedankfest in der Landwirtschaft. Da können Groupies und Hotelfrühstücks niemals mithalten. Abgesehen davon, schlafen wir zu großen Teilen in Dreibettzimmern und zischen morgens direkt wieder auf die Autobahn – um den Rockstar-Mythos mal ein bisschen in die kaputtgestreamte Musikrealität kleiner Newcomer-Bands zu holen.
Mein erster Eindruck zum Album: Kritikerlob wird es eine Menge geben. Wann wäre die Tour, das Herausbringen eines Albums für Sie ein Erfolg?
Meine innere Musikerin sagt: Schon geschehen. Ich habe so viel tolle Fanpost und Kommentare bekommen zu den ersten veröffentlichten Liedern. Dafür hat es sich schon gelohnt! Meine innere Sekretärin sagt: Wenn es sich finanziell trägt. Das tut die Tour, wenn sie gut besucht ist. Und das tut das Album, wenn sich trotz Streaming, genug Menschen von meiner limitierten Auflage selbstgebastelter Vinyl- und CD-Hüllen, die aus 100 Prozent Altpapier hergestellt sind, bezaubern lassen und zugreifen. Was bisher schon sehr viel geschah. Mein inneres Rudeltier sagt: Fertig! Patchwork-Family und Freunden und Freundinnen gefällt es!
Im Pressetext steht, dass Sie gern den „Finger in die wunden Punkte unserer aufgeklärten Gesellschaft“ legen. Was ist das bei Ihnen für ein Verhältnis – die Musik, wir, die Krisen und die Gesellschaft? Kann Musik die Welt verändern?
Ja, Musik verändert jeden Tag Milliarden von Menschenleben! Wir haben alle eine Hand voll Songs, ohne die unser Leben sehr viel verlorener oder sogar unvorstellbar wäre. Weil sie uns verbunden fühlen lassen. Weil da noch ein Mensch ist, der oder die eine Erfahrung oder Emotion, mit der wir uns bisher alleine glaubten, in Töne verwandelt hat. Musik kann auch neue Themen benennen und Missstände besingen, die bisher zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben und damit den Menschen, die unter diesen Missständen leiden, Mut machen, dagegen anzugehen.
Eine Frage an die Texterin: Was unterscheidet einen guten von einem sehr guten Text?
Ein sehr guter Text ist wie eine Wundertüte. Ich liebe es, wenn Wörter neu zusammengesetzt werden und Gedankengänge neue Abzweigungen nehmen – und zwar ohne krampfhaft originell sein zu wollen. Ich glaube, es ist immer ein kleines Wunder, einen guten Text zu schreiben. Es liegt nicht allein in der schreibenden Hand.
Bei Ihnen finden sich solche Zeilen: „Wenn die Grünen an der Spitze stehen und wir im Tesla unsere Runden drehen, dann wird alles gut, mein Kind!” Frei heraus gefragt: Warum wird unser Jahrhundert kein Katastrophen-Jahrhundert? Fällt Ihnen da ein Grund ein? Oder fehlt Ihnen komplett die Zuversicht?
Ich glaube jedes Jahrhundert bisher kann als Katastrophen-Jahrhundert bezeichnet werden. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Ich möchte genauso wenig Sklavin im Römischen Reich, Magd im Mittelalter, Herero-Frau in Namibia, Frau während der Weltkriege gewesen sein. Wenn ich ein bisschen rauszoome, finde ich, dass wir schon wahnsinnig viel geschafft haben. Teil dessen war es aufzudecken, wie furchtbar ausbeuterisch wir mit unserem Planeten umgehen und Menschen das Wort zu geben, die bisher aufgrund von Rassismus, Misogynie, Homophobie oder sozialer Ungleichheit noch nicht gehört wurden. Jetzt stehen wir vor der Wand von Ungerechtigkeiten und haben die Entscheidung. Zu Boden zu gehen und zu verzweifeln oder eben zu sagen: So weit, so wichtig! Weiter geht’s! Mir hilft es immer, mich selbst zu fragen: Wer will ich gewesen sein, wenn ich auf mein Leben zurückblicke?
Welchen Satz würden Sie Ende 2023 gerne denken, fühlen und sagen?
Ich hätte nie gedacht, dass wir trotz CDU in Berlin so viele Autos aus der Stadt geschmissen bekommen.
Bitte beenden Sie diesen Satz: „Glück ist …
… ein freies und selbstbestimmtes Leben leben zu dürfen.
Text: Mathias Schulze