Plasticiens Volants: Ein 18 Meter großer Gulliver auf Halles Marktplatz, 15. und 16. Juni, Markt und Hallmarkt und das Stück „An den Ufern der Fantasie: Gullivers Reisen in vier Inszenierungen“ vom 19. bis 21. Juni auf vier Freilichtbühnen in der Stadt, alle Infos unter: www.puppe70.de
Vom 15. bis 22. Juni 2024 feiert das Puppentheater Halle seinen 70. Geburtstag mit einem großen Festival, das die Stadt in eine Bühneverwandelt. Der Held des Eröffnungsspektakels heißt Gulliver und ist 18 Meter groß! Grund genug, bei Christoph Werner, dem künstlerischen Direktor des Puppentheaters, nachzufragen
Hallo, Christoph Werner, ein mächtiger 18-MeterGulliver zum Geburtstag – kleiner ging’s nicht?
Stimmt, 17 Meter hätten es auch getan! Scherz beiseite: Es ist ja so, dass wir schon viele Jahre Puppen bauen, deren maximale Größe die eines Menschen ist, in der Regel sind sie halb so groß. Was blieb also zu tun? Als in der Vorbereitung das Thema „Gullivers Reisen“, ein schöner populärer Stoff, im Raum stand, ist uns die französische Gruppe „Plasticiens Volants“ aus der Nähe von Toulouse eingefallen.
Aha, und warum?
Die haben so eine schöne Philosophie. In Frankreich hat das Straßentheater einen anderen Stellenwert, als bei uns. Während es bei uns, bis auf wenige Ausnahmen, ein bisschen nach buntem und beliebigem Treiben schmeckt, ist Straßentheater in Frankreich die Königsdisziplin. Das Ensemble „Plasticiens Volants“ widersetzt sich der Vorstellung, dass etwas Großes auch schwer sein muss. Sie bauen große Dinge, die leicht sind, die schweben. Und natürlich wollten wir etwas Spektakuläres. Die Gruppe hat den Gulliver extra für uns gebaut, er wird aufgepustet und mit Helium gefüllt. Er wird also bei uns zuerst zum Einsatz kommen, im Sinne der Nachhaltigkeit aber weiterhin verwendet werden.
Sie sind seit 1995 künstlerischer Leiter am Puppentheater der Stadt: Kam denn nie der Gedanke einer Luftveränderung in den Sinn?
Zwischendurch war ich auch mal Intendant des neuen theaters. Das war, obwohl auch in Halle, schon eine ziemliche Luftveränderung. Und ja, es gab mal zwei Angebote. Einmal, so 2010/2011 rum, wäre ich fast schon gegangen.
Aus welchen Städten kamen die Angebote?
Es waren attraktive Städte.
Sie wären fast gegangen. Warum nur fast?
Damals wollten meine langjährigen Mitarbeiter alle hierbleiben. Das hat einen großen Ausschlag gegeben. Und dann gab es natürlich auch die Stadt Halle, die mir ein Heimatgefühl schenkt, in der meine Kinder geboren sind.
Woran machen Sie das Heimatgefühl in Halle fest?
Wenn ich aus Urlaub zurückkomme, am Ortsschild vorbeifahre und denke, dass ich wieder zuhause bin.
Die Menschen strömen in Ihr Puppentheater: Wie erklären Sie sich das?
Lassen wir die Kirche im Dorf! Wenn wir 100 Plätze verkauft haben, sind wir ausverkauft. Wenn wir 250 Plätze hätten, wären wir auch nicht immer ausverkauft. „Puppentheater ist auf natürliche Art künstlich und auf künstlich Art natürlich.“
Es wird auch inhaltliche Gründe geben.
Es ist die Mehrdimensionalität. Durch unsere offene Spielweise, also durch das Faktum, dass man Puppe und Spieler sieht, wird der Zuschauer in einem Moment, also zeitgleich, illusioniert und desillusioniert.
Erläuterungen nehme ich gerne mit.
Man sieht den Puppenspieler, wie er die Hand an der Puppe hat. Trotzdem sieht man die Puppe an und denkt, dass sie lebt. Illusion und Desillusion finden zeitgleich statt. Dieser Umstand sorgt dafür, dass man nicht unterfordert wird, dass es nicht langweilig wird. Ein Effekt, den übrigens Erwachsene mehr zu schätzen wissen, als Kinder, für die alles gleich real ist. Ich höre oft die Reaktion, dass man sich das noch einmal anschauen möchte. Und tatsächlich haben wir einen hohen Prozentsatz an Wiederholungstätern.
Illusion und Desillusion. Genau diese Faszination könnten Puppentheater-Muffel als Kritikpunkt ansetzen.
Wer besser mitleiden und – wie Brecht sagen würde – „romantisch glotzen“ will, ist vielleicht beim reinen Menschen-Schauspiel besser aufgehoben. Deswegen haben wir ja glücklicherweise die vielen Sparten bei den Bühnen im Angebot. Da die Puppe keine Mimik hat, muss der Zuschauer die Vervollkommnung des unvollkommenen Puppenspiels selbst leisten. Puppentheater ist auf natürliche Art künstlich und auf künstliche Art natürlich.
Was sagen Puppentheater-Muffel sonst noch so?
Manche sagen, dass die Puppen gruselig sind, weil sie so menschenähnlich aussehen. Man kennt dieses Phänomen aus der Roboterforschung. Je menschenähnlicher der Roboter ist, desto mehr macht er den Menschen Angst. Eine Beobachtung, die im Altenheim relevant wird. Und wenn dort der Roboter wiederum nicht menschlich genug aussieht, sorgt das auch wieder für Verwirrung.
Man sollte im Altenheim lieber auf gut bezahlte menschliche Pflegekräfte setzen.
Meine Rede.
Wollen Sie unseren Lesern bezüglich des Festivals etwas erzählen, was sie nicht unter www. puppe70.de finden werden?
Ja, ich möchte an alle FRIZZ-Leser einen Appell richten: In den zwei Wochen vor der Festivaleröffnung sollen immer alle Teller leer gegessen werden!
Das macht Sinn!
Und abends sollen die Hände gefaltet werden, wir brauchen gutes Wetter.
Sind Sie gläubig?
Nö, aber bei Prozessen auf die man keinen Einfluss hat, bleibt nur das Stoßgebet.
Gibt es keine Regenvariante?
Regen ist nicht so schlimm, aber kräftiger Wind kann uns gefährlich werden.
Es sind 18 und nicht 17 Meter!
Genau.
Stellen Sie sich einmal vor, das Puppentheater wäre ein Mensch und lädt zur Geburtstagsparty: Welches Geschenk würden Sie zum 70. Ehrentage mitbringen?
Kindliche Begeisterungsfähigkeit.
Text: Mathias Schulze