Patricia Piccinini – Fremde Berührung, bis 30. Juni, Kunsthalle Talstrasse, www.kunstverein-talstrasse.de
Die Kunsthalle Talstrasse im halleschen Stadteil Kröllwitz zeigt mit der Ausstellung „Fremde Berührung“ von Patricia Piccinini eine herausfordernde Schau. Eine Rezension von Mathias Schulze
„Die Kunsthalle Talstrasse ist bevölkert mit Wesen von einem anderen Planeten, mit Mischungen zwischen Tier und Mensch, die verstören, ja ängstigen.” So heißt es in einem Beitrag des MDR. Ob diese Wesen, diese hyperrealistischen Figuren, die aus Silikon, Plastik oder Menschenhaar gefertigt sind, nun wirklich als Außerirdische konzipiert sind, sei mal dahingestellt, aber tatsächlich ist das Verstörende, die Angst und sogar der Ekel ein wesentliches Element der Ausstellung Fremde Berührung, die über 30 Objekte der australischen Künstlerin Patricia Piccinini, Jahrgang 1965, zeigt.
Alles beginnt schon im Begrüßungsraum. Kaum ist man die Treppe in der halleschen Talstraße 23 emporgestiegen, empfangen sanfte, aber auch bedrohliche Klänge. Eine Skulptur der Künstlerin selbst steht im Eingangsbereich: Sie trägt ein langes, blaues Kleid, ihre Haltung und ihre Augen sind fürsorglich, die langen Haare korrekt und gepflegt. Nicht nur Kinder dürften bei diesem Anblick an Geborgenheit, an häusliche Idylle, ans kleine große Glück denken. Doch was hält sie da im Arm, was schmiegt sich da so zärtlich und mit sehnsuchtsvollem Blick an den beschützenden Busen? Ist es ein Schwein mit Menschengesicht? Eine absonderliche Gestalt! Eklig! Kratzt die liebevolle Skulptur der Künstlerin ganz scharf an der Vorstellung einer Heim- und Herd-Mama, konterkariert dieses seltsame Geschöpf alle Klischees. Müsste hier nicht ein zuckersüßes Menschenbaby in den Armen gehalten werden? Müsste hier nicht die so oft als Endstation Sehnsucht verkaufte Erfüllung namens MutterSein illustriert werden? Stattdessen hockt da so ein undefinierbares Wesen, das dank seines Blickes etwas Liebenswürdiges und dank seiner Gestalt etwas Abstoßendes hat, in den Armen dieser schönen Frau! Was ist da los? Hier stimmt was nicht! Hier werden unsere kollektiven Stereotypen herausgefordert! Hier müssen wir damit klarkommen, dass etwas, das durchaus Ekel hervorrufen kann, zeitgleich auch extrem zärtliche Züge aufweist! Eine Ausstellung als Herausforderung. Es ist durchaus vorstellbar, dass mancher Besucher einem schnellen Reflex nachgeben möchte: Nur raus hier! Piccinini fordert ein Aushalten, die Schau geht unter die Haut, sie konfrontiert uns mit unangenehmen Gefühlen, sie zwingt uns nachgerade ein emotionales Ausbalancieren auf: Du siehst hier Gruseliges, Hässliches, Entstelltes, Fremdes, aber ich gestatte dir nicht, in einen reinen Ablehnungsprozess zu treten! Denn immer zeitgleich zeige ich dir das Gruselige, Hässliche, Entstellte und Fremde als etwas dir extrem Vertrautes, als etwas Liebevolles und Harmonisches, als etwas, das ein Teil von dir ist! „Ich zeige dir, dass das Gruselige, Hässliche, Entstellte ein Teil von dir ist.“
Nehmen wir das wunderschöne Kind, das da auf dem Fußboden sitzt und – ähnlich wie die Künstler-Skulptur – so ein seltsames Geschöpf in den behutsamen Armen hält: Das Kind wirkt selbst verletzlich, es regt unseren Beschützerinstinkt an, es appelliert an unsere guten Kräfte. Und zeitgleich hat es so unglaublich behaarte Beine – wie ein Affe! Zeitgleich behütet es dieses ekelerregende Geschöpf (bestimmt ein Monster!), zeitgleich scheinen beide in einer harmonischen Beziehung aufgehoben zu sein. Wie kann man nur so lieben? Wir sind verwirrt, empört, wollen andere Bilder sehen! Aber zeitgleich erblassen wir vor Neid – welch ein seelischer Einklang! Piccinini packt den werten Besucher hochgradig privat an. Sie führt ihn auf Wege, die sich nicht nur intellektuell mit Schönheitsidealen, mit dem Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen und mit der menschlichen Zerstörung des Planeten auseinandersetzen müssen. Nein, Piccinini führt uns auch zu einer intimen Selbstbefragung: Schau dich an, auch du bist weder Ken noch Barbie, auch du hast deformierte Elemente – innen wie außen! Auch du bist, innen wie außen, eine Zumutung für den Betrachter! Auch du bist in deiner Art liebenswürdig – alles immer zugleich! Und was heißt das eigentlich - deformiert? Diese Ausstellung ist nicht dafür gemacht, dass man sich im kontemplativen Ansehen von Schönheit – was immer das auch ist – erfrischen kann. Diese Ausstellung ist vielmehr ein Angebot, die menschlichen machtvollen Reflexe zu erforschen: Warum empfinden wir Wohlgefallen, warum spüren wir Abneigung? Sind wir von der Werbeindustrie konditionierte Wesen, deren Empfinden kulturell implementiert ist? Und warum urteilen wir so oft nach außen gerichtet und so selten im Modus der Selbstkritik? Wir inszenieren uns oft als „normal”, wir verleugnen oft unsere Abweichungen, die aber darüber aufklären könnten, dass es eine Kategorie der Normalität gar nicht gibt. Die Kunsthalle Talstrasse zeigt eine extrem herausfordernde Schau. Mögen es sich die Besucher nicht zu bequem machen, mögen sie die verursachte Gefühlsverwirrung als eine Bereicherung erkennen! Fremde Berührungen sind nicht immer schön, aber lehrreich.
Text: Mathias Schulze