Lebzeitgäste, 4. und 5. April, neues theater Halle, jeweils 19.30 Uhr, alle Termine unter www.buehnen-halle.de
Mille Maria Dalsgaard, die zusammen mit Mareike Mikat das neue künstlerische Leitungsduo des neuen theaters bildet, zeigt mit „Lebzeitgäste“ ihre erste Regie-Arbeit in Halle. Eine Rezension von Mathias Schulze
Nebel, rote Lippen, Röckchen, absurde Perücken, riesige Handtücher mit Schädeln im Hintergrund. Und auf der Bühne stehen Trampolins – jeder hopst für sich allein. Ein Tanzen und HuckepackTragen, ein Zucken, Luftboxen, Hinlegen und Kopfschütteln. Wie überdrehte, hektische, nervöse, heißgelaufene und zutiefst manische Lemminge flitzen, springen und rumpeln die Schauspielerinnen und Schauspieler Ines Schiller, Marian Kindermann, Harald Höbinger, Florian Krannich und Aline Bucher hin und her. Nur Franziska Hayner ruht anfangs wie ein Buddha auf ihrem Trampolin. Ein wildes Tohuwabohu. Alles tobt, frohlockt, giftet und schießt schüchtern und verhuscht durcheinander: Denk an den Steuerbescheid, an die verstopften Rohre! Verdrängen! Hätten wir mal die Wohnung in Berlin vor Jahren nicht verkauft! Was verdammt ist China? Oh, es regnet! Wissen wir was? Überall ein bisschen zu viel! Wir wohnen hässlich! Ist bestimmt was Genetisches! Der Tod und der Sex, das soziale Scheitern und das erwünschte Bidet. „Obwohl wir uns entschlossen haben, im Jetzt zu leben, sind sieben Jahre vorbeigezogen!“ Ein knalliger, ein bunter, ein lauter, ein witziger Start. Nur was sind denn das für absurde Figuren? Stimmen? Gedanken? Ichs? Persönlichkeiten? Bewusstseinssplitter? Unendliche und nicht zu bändigende Quasselstrippen, die uns alle täglich von oben bis unten, von links nach rechts, von rechts nach links, von tief bis Oberfläche durchfluten und malträtieren. Aber sind wir noch mehr als das? Oder doch nur die Summe des Durcheinanders, die Summe unserer schrägen, schönen oder einspurigen Beziehungen zu anderen Menschen? Um mit Goethes „Faust“ zu sprechen: „Tausende Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust.“ Ja, irgendwie so etwas sind diese Figuren. Wir sind im Kopf einer Person! Mag sie auch nach außen geordnet erscheinen – hier drinnen regiert das Chaos! Willkommen im Absurden! Für ihren Intendanzstart hat Mille Maria Dalsgaard das Stück „Livstidsgæsterne” der dänischen Autorin Line Knutzon in die deutsche Sprache übersetzt. Warum hat sie es inszeniert? Im Programmheft gibt Dalsgaard Auskunft: „Was mich an den Arbeiten von Line Knutzon immer wieder begeistert, ist die Präzision im Absurden. (…) Dabei nimmt sie die Bedeutung von Beziehungen genau unter die Lupe. Wie stehen wir im Leben zu uns selbst, zu den Menschen und der Welt um uns herum?“ Was für ein Thema! Keine Frage, in Zeiten, in denen die Praxen der Psychotherapeuten aus allen Nähten platzen, muss das auf die Bühne! Und damit beginnen die Schwierigkeiten dieser Inszenierung. Natürlich holen die Schauspielenden alles, was sie an Gestik, Mimik, Bewegungen und ulkigen Verrenkung veräußern können, aus sich heraus. Das Stück lebt von der Situationskomik. Es ist ein Genuss zu sehen, wie Harald Höbinger immer wieder eingeschüchtert nervös am Röckchen zuppelt, wie seine Kinnlade immer wieder aus der Verankerung zu fallen droht. Es ist ein Genuss zu sehen, wie der massive Körper von Florian Krannich mit der Wut eines Berserkers im Durcheinander der flitzenden Lemminge unterzugehen droht. Es ist ein Genuss zu sehen, wie Markéta Jedlicková in ihren Tanzszenen nach Halt und Struktur ringt. Es ist witzig, wenn die Stimmen um ein Verhältnis zur Welt ringen: „Sag was Wichtiges! Identitätspolitik! Das mögen die Leute!“ Auch einzelne Szenen formen sich zu bestechenden Bildern: Das Licht geht aus und die weißen Hemden leuchten in die einsame Nacht. Und manche Sätze sind einfach zum Niederknien: „Obwohl wir uns entschlossen haben, im Jetzt zu leben, sind sieben Jahre vorbeigezogen!“ Und doch formt sich daraus kein Ganzes, das über gute zwei Stunden einen guten Theaterabend ausmacht. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass nach gut zehn Minuten alles gesagt, dass nach gut zehn Minuten die absurdtragische Essenz der Inszenierung erfasst ist. Ja, wir alle leben im Selbstoptimierungsmodus. Ja, in uns allen wohnen und vibrieren die Widersprüche der kapitalistischen Welt. Ja, wir alle kriegen ein kohärentes Selbstbild einfach nicht hin! Wie auch!? Warum auch?! Und ja, eine Beziehung zu anderen Menschen gelingt nur dann, wenn sich jeder als zerschossenes Ich zeigen darf. Nur reicht es nicht, diesen Befund in scheinbar ewig wiederkehrenden Szenen aneinanderzureihen. Gespannt wartet man auf eine Entwicklung, gespannt fragt der Intellekt, was jetzt daraus folgt, gespannt ist man, ob der Slapstick noch ins Poetische führt, ob die rasante Schnelligkeit irgendwann noch die eigenen Abgründe und tieferen Seelenschichten berühren kann. Stattdessen fühlt sich die Inszenierung bis zum Ende wie eine beständige Wiederkehr des Immergleichen an. Ein RedundanzProblem. Der Inszenierung fehlt die innere Spannung. Das überträgt sich auch aufs Publikum, das aber dennoch – und das ist erstaunlich – gut unterhalten wird.
Text: Mathias Schulze