Die Frauen von Workuta – Eine Theatercollage nach Zeitzeuginnenberichten, 9. November bis 29. Januar, Turm und Graben der Moritzburg, alle Termine: www.apron.de
„Tauchen Sie ein in die wahren Begebenheiten verschleppter Frauen aus Ostdeutschland der 50er Jahre.” So kündigt sich das neue Stück vom halleschen Theater Apron namens „Die Frauen von Workuta” an. Das FRIZZ- Magazin hat mit Lynne Eichhorst, die das Stück geschrieben hat und auch Regie geführt hat, gesprochen
Hallo, Lynne Eichhorst, wie kamen Sie zu dem Stoff?
Zuerst einmal gibt es da dieses bewegende Buch von Nancy Aris: „Das lässt einen nicht mehr los – Opfer politischer Gewalt erinnern sich“ aus dem Jahr 2017. Darin gibt es Zeitzeugenberichte von Menschen, die Opfer politischer Gewalt wurden. Aris hat 32 packende Porträts verfasst, die von Menschen berichten, die unter anderem in sowjetischen Lagern saßen, aus ihrer Heimat an der in-nerdeutschen Grenze vertrieben wurden oder wegen Protestaktionen oder Fluchtversuchen hinter Gitter kamen. Anlässlich der Leipziger Buchmesse 2017 sollten ein Kollege und ich ein paar Berichte aus diesem Buch lesen. Der Buchstoff ließ mich anschließend wirklich nicht mehr los. Und der Wunsch, aus diesem Thema ein Theaterstück zu erarbeiten wuchs.
2017, das Jahr des Erscheinens des Buches, ist schon ein bisschen her.
Mir fehlte bislang die Zeit für eine theatrale Umsetzung. Dann kam Corona, dann kam aber auch das Programm „Kultur ans Netz“. Ich habe einen Antrag gestellt, ein Stück zu diesem Thema zu entwickeln. Das Stipendium wurde bewilligt und die Recherchen konnten beginnen. Während dieser Recherchen bin ich vermehrt auf die Schicksale von Frauen gestoßen, die in die Sowjetunion, nach Workuta, verschleppt wurden. Das hatte mich sehr berührt, sodass ich beschloss, mich von dem Buch von Nancy Aris zu lösen und ein Stück über sechs Frauen, also sechs Zeitzeuginnen, zu entwickeln.
Alle sechs Frauen …
… haben in diesem Lager in Workuta gearbeitet. Und auf der Bühne soll durch Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Geschichte erzählt und dargestellt werden. Weil alle sechs Frauen nach Workuta verschleppt wurden, bekam das Stück diesen gemeinsamen Ort im Stücktitel. Workuta ist aber nur ein Gulag von vielen und steht stellvertretend für die vielen anderen Arbeitslager.
Wer ist der Schuldige? Von welchem Zeitraum, von welchen Zahlen reden wir?
Es ist schwierig, hier von Schuldigen zu sprechen. Der Mensch ist eben nicht schwarz oder weiß. Er ist eine Mischung aus Wahrheit und Lüge, Freude und Leid, Liebe und Hass. Mir geht es weniger um die Schuld oder um irgendwelche großen Zahlen, sondern vielmehr, was wir Menschen uns gegenseitig antun. Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen Gewalt zuzufügen, zu unterdrücken oder sogar zu töten. Zahlen bringen uns leider nur etwas auf dem Papier. Wir müssen begreifen, welches Verbrechen auch nur mit einem Menschen passiert ist. Wir haben doch alle nur dieses eine Leben! Und wenn wir nach Butscha schauen, wissen wir, dass diese Gewalt keine Geschichte aus vergangenen Zeiten ist, sondern, dass es jeden treffen kann. Aber wer waren die Verschleppten denn eigentlich? Was haben sie erlebt? Und wie haben sie es geschafft, zu überleben?
Verstehe. Ich möchte aber noch einmal nach den Zahlen fragen.
Und ich möchte auf die Frage antworten: Bereits vor der Kriegswende deportierte der sowjetische Geheimdienst NKWD über 600.000 deutsche Zivilisten in die Sowjetunion, darunter viele Frauen. Die Deportation der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung begann in den deutschen Minderheitsge- bieten auf dem Balkan. Sie sollten zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden beitragen. Als die Rote Armee in die deutschen Ostgebiete vorrückte, wurden die Deportationen fortgesetzt. Annähernd 22.000 Personen wurden durch sowjetische Militärtribunale bis 1955 in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR abgeurteilt. 2.223 von ihnen wurden erschossen. Der Großteil kam in ein Gulag. Mehr als ein Drittel der Deportierten kehrte nicht zurück.
Haben Sie im Laufe Ihrer Recher-chen noch etwas mehr über die Motive des russischen Geheimdienstes herausfinden können?
Einmal sollten die Menschen zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden beitragen. Dann sind sie natürlich aus der damaligen sowjetischen Sicht billige Arbeitskräfte, beispielsweise für den Kohleabbau, für den Gleisbau, für die Ziegelherstellung. Die verschleppten Menschen waren letztendlich für dieses System nur Nummern, die leicht zu ersetzen waren. Hinzu kommt, dass die Sowjetunion bereits Ende der 20er Jahre Leute, die das eigene politische System kritisierten, mit hohen Haftstrafen oder sogar mit dem Tod abgeurteilt hatte. Diese kamen in Arbeitslager und mussten ihre Haftstrafe (15 oder 25 Jahre) abarbeiten. Danach durften sie nicht in ihre Heimat zurückkehren und galten als Verbannte. Die Menschen blieben in Workuta, verliebten sich, gründeten Familien. Und so entstand eine Stadt. In der Zeit der sowjetischen Besatzungszone und in den Jahren danach breitete sich dieses Überwachungssystem in Ostdeutschland aus. Es wurde überprüft, ob sich die Bevölkerung systemtreu verhielt. Wer das Spiel nicht mitgespielt oder eine nationalsozialistische familiäre Vergangenheit hatte, der stand schon mal unter Generalverdacht. Aber manchmal war es eben auch einfach Willkür.
Wieso kommt es mir so vor, als leide das Thema an einer medialen Unterrepräsentation?
Sind die Leute aus dem Gulag wiedergekommen, mussten sie eine Unterschrift leisten, wonach sie zu schweigen hätten. Manche hielten sich daran, manche sind in den Westen geflüchtet. Aber auch da gab es Misstrauen. Die Angst, wieder eingesperrt zu werden, schwang immer wieder mit. Und letztendlich braucht es sicher Mut dieses Erlebte zu erzählen. Wer glaubt mir das? Kann ich über das Erlebte überhaupt offen reden? Die meisten Betroffenen brachen erst zur Wende das Schweigen. Es gibt Filme und Bücher darüber, aber meist beschäftigen wir Deutschen uns sehr intensiv mit dem Nationalsozialismus, was natürlich sehr wichtig ist, aber dann? Was danach kam, wird in der Schule, zumindest als ich zur Schule ging, kurz bis gar nicht erzählt. Und dabei ist es gerade für die Geschichte im Osten so wichtig zu wissen, dass wir hier von einer Diktatur in eine andere Diktatur gerutscht sind. Also ja, es ist medial unterrepräsentiert.
Die Aufarbeitung …
… wird bisher von Stiftungen wie die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur oder Gedenkstätten wie der Rote Ochse oder eben Historiker und Historikerinnen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, geleistet.
Das Ganze klingt so, als könnte man es ohne historische Bezüge, ohne die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gar nicht erzählen. Welchen Anspruch hat ihre theatrale Umsetzung? Und welchen vielleicht nicht?
Natürlich will ich einerseits historisch korrekt sein und natürlich soll das Ganze einen aufklärerischen Aspekt aufweisen. Aber auch bei diesem Thema muss man dem Bühnencharakter Tribut zollen. Bei den vielen Frauen habe ich natürlich keine sechs Zeitzeuginnen gefunden, die während der gesamten Zeit zusammen waren – also vom Transport ins Arbeitslager und wieder zurück nach Deutschland. Die Frauen wurden bereits in Deutschland oft verlegt, manchmal haben sie sich im Arbeitslager später wiedergetroffen. Dort haben sie meist unterschiedliche Arbeiten verrichtet. Ein anderes Beispiel ist, dass die Frauen alle in verschiedenen Jahren verschleppt wurden. So wurde eine Zeitzeugin schon 1947 verhaftet, weil sie dem neuen System dienen sollte. Ihr Vater war Nationalsozialist, sie wollte weder dem einen noch dem anderen System dienen und war acht Jahre im Arbeitslager. Eine andere Frau dagegen ist 1952 aus dem Westen in den Osten gelockt und verschleppt und 1954 wieder entlassen worden. Letztendlich geht es darum, den Zeitzeuginnen eine Stimme für die Geschehnisse zu verleihen und dafür brauchte ich einen gemeinsamen, teilweise fiktiven, Handlungsstrang. Mir ist bewusst, dass es ein sehr schwermütiges Thema ist und deshalb habe ich nach schönen Momenten gesucht, die die Frauen in Gefangenschaft erlebt haben. Es muss schließlich etwas geben, was den Frauen Hoffnung gegeben hat, das Ganze durchzuhalten. Ich möchte, dass die Zuschauer auch mal lachen können oder denken: Welch schöner Moment! Es geht nicht ohne Lachen, das merke ich auch oft während der Probe. Je ernster die Szene, desto alberner werden die Schauspieler und Schauspielerinnen im Anschluss.
Erzählen Sie bitte mehr von der Umsetzung.
Insgesamt wird es ein Stationen-Theater werden, wir werden den Turm und den Graben der Moritzburg mit einbeziehen. Wenn wir auf den Transport nach Workuta (Arbeitslager nördlich des Polarkreises) gehen, werden die Schauspieler und Schauspielerinnen mit den Zuschauern aus dem warmen Turm nach draußen in den etwas kühleren Moritzburggraben gehen. Bei der Umsetzung ist mir das Zwischenmenschliche ganz wichtig: Was hat Leute lebendig gehalten? Wie sind sie mit ihrem Schicksal umgegangen? Ich habe mich lange gefragt: Was kann man zeigen? Wie kann man das machen? Da sind ja so viele grausamen Sachen dabei. Mir fiel es schwer, Entscheidungen zu treffen. Aber am Ende lasse ich viel über Monologe laufen. Wird es zu brutal, lasse ich einiges gleichsam indirekt über die Erzählung laufen. Ich brauche keine nackte Person, die schockierend über die Bühne läuft oder sogar auf der Bühne vergewaltigt wird. Die Schauspielenden brechen immer wieder die Monologe auf, so dass es abwechslungsreich bleibt. Wir arbeiten mit vielen bildreichen Szenen, mit musikalischen und bewegungsreichen Collagen, mit Geräuschen und Musik, die von einer Violinistin und einem Schlagzeuger erzeugt werden. Zwischen den Szenen wird es immer wieder akustische oder filmische Einspieler der realen Zeitzeuginnen geben, damit der Zuschauer einen weiteren Eindruck der Frauen bekommt.
Das Stück „Die Frauen von Workuta“ wird dann also …
… ein theaterdokumentarisches Stück nach wahren Begebenheiten mit vielen Facetten – Höhen und Tiefen, Lachen und Weinen, Stille und Musik, Stillstand und Bewegung.
Text: Mathias Schulze