Die gebürtige Kanadierin Barbara Thériault, Jahrgang 1972, ist Halles neue Stadtschreiberin. Thériault promovierte in Deutschland in Soziologie und ist Professorin an der Universität in Montréal und Erfurt. Welche Ziele, Erwartungen und Aufgaben mit dem Job einer Stadtschreiberin in Halle an der Saale verbunden sind, darüber hat FRIZZ-Redakteur Mathias Schulze mit Barbara Thériault gesprochen
Hallo, Frau Thériault, wie kam es eigentlich, wie wird man Stadtschreiberin in Halle?
Man bewirbt sich mit einem bestimmten Vorhaben. Ich habe mich als Soziologin, Feuilletonistin und Friseurin in Ausbildung mit dem Projekt „Abenteuer einer linkshändigen Friseurin“ um das Stipendium beworben.
Und was genau machen Sie jetzt? Was ist Ihr Ziel? Müssen Sie Vorgaben erfüllen?
Formell sollte ich am Anfang und am Ende meiner Zeit in Halle eine Lesung anbieten. Das gibt mir viel Freiheit, und das ist sehr schön, denn ich habe mir einiges vorgenommen.
Erzählen Sie!
Ich möchte durch das Haareschneiden Orte erkunden und Menschen kennenlernen. Im geselligen und vertrauensvollen Ambiente des Friseursalons lässt sich bekanntlich gut ins Gespräch kommen. Bisher habe ich in einem sehr netten Salon am Rand der Stadt Haare geschnitten und den Mikrokosmos, den der Salon bietet, beobachtet. Anfang Mai war ich noch in der Wärmestube der Stadtmission tätig. Mein Ziel ist es, in Friseursalons dreier unterschiedlicher Stadtteile einen Stuhl zu mieten, um von dort aus zu berichten. Meine „Abenteuer einer linkshändige Friseurin“ sollten als Texte in der hiesigen Presse erscheinen, aber auch als Kolumne in Montréal mit einigen Texten auf Französisch – und, später, als Buch.
Wann wird das Buch über Halle erscheinen?
Das wird etwas dauern. Wahrscheinlich 2024.
Wie ist die Idee mit den Friseursalons entstanden?
Durch eine Bemerkung, die ich am Rande meiner Erkundungen zur Lebensführung, Haltung und Ästhetik von mittleren Schichten in Thüringen gemacht habe, im Rahmen meiner Recherchen zum Buch „Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft“. Die Menschen waren stolz darauf zu sagen, dass sie keinen Stil hatten. Das ist interessant, denn eigentlich haben wir alle einen Stil, auch diejenigen von uns, die das bestreiten. Das war der Auslöser einer Reihe von Fragen.
Welche Fragen sind das?
Was ist das für eine Ästhetik, die man nicht nennen kann oder will?
Was war Ihr erster Eindruck von Halle? Hat sich die Wahrnehmung schon verändert?
Ja! Zu meinen ersten Eindrücken habe ich schon einen Text geschrieben: „Prag an der Saale“. Die heterogenen Baustile – vom Fachwerk, Klassizismus und Jugendstil bis zur Moderne, vom Bauhaus bis zum Plattenbau, die Straßenbahnen, die durch Kurven summen, das Hügelige, der Fluss und die Inseln: Die Stadt kam mir anfangs wie ein kleines Prag vor. Zwischendurch war ich einen Tag in Prag, es ist ja nicht so weit. Schon einige Minuten nach Ankunft setzte, muss ich zugeben, eine gewisse Ernüchterung ein. Nicht, dass Halle nicht schön wäre, nein, so ist es nicht. Die Größe der Stadt, die Breite des Flusses, die gewaltige Anzahl von Touristen rückten einfach Halle in die vertraute Mitte Deutschlands und ließen mich meine anfängliche Analogie der beiden Städte stark bezweifeln. Aber dann kam mir eine andere Analogie in den Sinn, die sich bewahrheite. Was das ist, verrate ich aber noch nicht.
Wir sind gespannt. Sie sind Soziologie-Professorin. Welche soziolo- gischen Blickwinkel wollen Sie für Ihre Halle-Texte nutzen?
Soziologinnen und Soziologen beobachten, wie die Gesellschaft jeden Tag produziert und reproduziert wird, und dabei ein bisschen verändert wird. In Friseursalons wird auch die Gesellschaft und ihre Ästhetik mitgestaltet. In einem Erfurter Salon, wo ich Anfang des Jahres arbeiten konnte, machte ich folgende Beobachtung: Friseurinnen sind, mehr oder weniger freiwillig, Herstellerinnen der Normalität. Sie produzieren zwar Neues, aber auch, und vor allem, Normalität.
Das verlangt nach Erläuterungen.
Ich versuche, es ein bisschen näher zu erklären: In dem Salon, in dem ich war, zog die Kundschaft die gleichen Haarschnitte vor. Bei Frauen: kinnlang, kurz mit blonden Strähnchen und mit dunklem Ansatz oder rot gefärbt. Bei Männern: sechs Millimeter oben und drei an den Seiten. Die Friseurinnen willigten oft ein, genau die Frisuren zu machen, die sie beteuerten, nicht zu mögen. Weil es aber wenige andere Kundinnen und Kunden gab, die sich etwas Besonderes wünschten, erlaubte dies den Friseurinnen, eine Vielfalt zu beteuern, die in Wirklichkeit aber kaum vorhanden war.
Ein anderer Blickwinkel: Sie waren 2018 vier Monate lang Stadtschreiberin von Lwiw (Lemberg), vier Monate lang im Westen der Ukraine und verfolgen die Nachrichten. Haben Sie noch Kontakte zu Menschen vor Ort?
Eine Freundin aus der Ukraine wohnt zur Zeit bei mir. Durch sie komme ich in Berührung mit Fluchterfahrungen und verschiedenen Menschenschicksalen. Zusammen waren wir neulich bei der zentralen Aufnahmestelle in Halle-Neustadt zum Registrieren. Unter einem Dach können Ukrainerinnen, es sind vor allen Frauen, und ihre Kinder alle nötigen Behördengänge erledigen. Ich fand es beeindruckend, meine Freundin auch, wie alles schnell und unkompli-ziert verlief. Als sie offiziell angemeldet war, fühlte sie sich erleichtert. Kann ich noch etwas dazu sagen?
Klar!
Meine ukrainische Mitbewohnerin freut sich über kleine Gesten, und sei es nur eine Flagge im Schaufenster. Sie fotografiert diese kleinen Zeichen und, wie andere Geflüchteten, aus ihrem Land, postet sie sie auf Instagram. So entsteht ein Solidaritätsgefühl, das verbindet. Das hätte ich nicht so erwartet. Ich finde es schön, das zu wissen.
Text: Mathias Schulze