Toccata 20, 4., 5., 25. und 26. November, Bauhaus Museum Dessau-Roßlau, jeweils 20 Uhr, alle Termine: www.anhaltisches-theater.de
Im November letzten Jahres überlebte Stefano Giannetti, der neue Ballettdirektor und Chefchoreograf am Anhaltischen Theater Dessau, einen schweren Arbeitsunfall. Nun meldet er sich mit dem Tanzabend „Toccata 20“ auf der Bühne zurück
Es ist nasskalt, das Wetter lädt zum Studium der Bettdecke ein, der 55-jährige Stefano Giannetti, seit letztem Jahr Ballettdirektor und Chefchoreograf am Anhaltischen Theater, schiebt sich durch den Dessauer Oktoberregen. Gleich wird die schwarzumrandete Brille geputzt, wird der gebürtige Italiener seine sehr guten Deutschkenntnisse unter Beweis stellen, mit gestikulierenden Händen entsteht bei miesem Wetter ein einnehmendes Gesprächsklima.
Giannetti weiß, worauf er zuerst eingehen soll. Gleich in seiner ersten Spielzeit stürzte er im Backstagebereich des Theaters in eine Tiefe von mehr als vier Metern. Giannettis Schilderungen haben die Plastizität eines meisterhaften Comics: „Es ging ganz schnell, reflexartig griff ich wie Tarzan nach einer eisernen Stange, plötzlich flogen meine Schuhe. Und ich konnte mich aufgrund meiner Tanzausbildung gezielt fallen lassen.“ Unten angekommen vernahm er die Geräusche des Schmerzes, das Knacken der Knochen, das Stöhnen des verschwitzten Körpers. Dann kam der Griff zum Handy und der erste Gedanke: „Mein Gott, ich lebe!“ Über vier Monate Krankenhaus und einige Komplikationen folgten. Die Erfahrung, dem Schnitter im letzten Moment von der Sense gesprungen zu sein, ist prägend.
So intensiv wie der Globetrotter Giannetti in Rom, Paris oder Cannes getanzt hat, so leidenschaftlich er in England, Berlin oder den USA choreografiert hat, so vehement schwärmt er von der „liebevollen, offenen und freundlichen Art“ seiner Dessauer Bekanntschaften, nachdrücklich will er „all den Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeutinnen danken“. Wo Schatten ist, ist auch Licht, Giannetti betont lebhaft gestikulierend: „Jetzt habe ich hier in Dessau-Roßlau schon mehr Freunde gefunden, als in meinen zehn Jahren in Kaiserslautern, wo ich von 2006 bis 2015 Ballettdirektor war.“
Und dann, nach wenigen Minuten, fällt auch der Begriff, der untrennbar mit dem professionellen Tanz verbunden ist: Disziplin. Giannetti erzählt von den kulturellen Familieneinflüssen, von seiner Karriere. Da die gebrochenen Füße und lädierten Menisken, dort der Rausch der Bühne, die Lust am Tanzen und der disziplinierte Verzicht, um das Kapital des Körpers möglichst lange ausnutzen zu können.
Giannetti gelingt inmitten seiner mitreißenden Ausführungen ein druckreifer Satz: „Ein Tänzer tanzt nie ohne Schmerzen.“ Entscheidend sei der Umgang mit den Unwägbarkeiten, Giannetti, der den Dessauer Generalintendanten Johannes Weigand schon seit 1993 kennt, hat noch vom Krankenbett aus die Arbeit wiederaufgenommen. Während seiner Reha kamen die Ideen zum Tanzabend „Toccata 20“. Disziplin, Sie wissen schon.
„Toccata“ kommt vom italienischen „Toccare“, es meint schlagen, berühren oder betasten. Das Stück, stattfindend auf der besonderen Appia-Bühne im Bauhaus Museum, bietet nicht nur Musik von Claudio Monteverdi oder Johann Sebastian Bach, es atmet nicht nur im Puls der Blechbläser und Pauken, sondern es hat auch einen thematischen Rahmen, der von der aktuellen Pandemie beeinflusst ist, sie aber auch metaphorisch transzendiert.
„Es geht um Einsamkeiten, um das Alleinsein, obwohl man doch zusammen ist. Es geht um den Ausbruch aus diesem Gefühl. Wohin führt es, wenn man es aggressiv versucht? Wie bewegt man sich, wenn man das Leben und den Kampf akzeptiert?“, sagt Giannetti, der mit seiner emphatischen Art auch klare Kante zeigen kann.
Von Kategorisierungen und konstruierten Gegensätzen, denken wir an die Begriffe „klassischer und moderner Tanz“, hält er gar nichts, von Hierarchisierung im Bereich der Kunst ganz zu schweigen. Alles hänge miteinander zusammen, alles solle in seinen Arbeiten ineinanderfließen, sich gegenseitig befruchten.
Bei diesem engagierten Reden über sein Handwerk, ist es kein Wunder, dass noch ein druckreifer Satz fällt: „Sehen Sie, die Meisterwerke des Komponisten Philip Glass wären ohne die genialen Arbeiten von Wolfgang Amadeus Mozart nicht vorstellbar.“ Giannetti lächelt, noch bereitet ihm ein längeres Sitzen Schmerzen. Doch mit dem Gedanken ans Schöpferische kommt ihm auch das Destruktive in den Sinn: „Ich liebe die Freiheit und die Offenheit. Wir haben so eine wunderbare Welt, aber wenn ich an die Raffgier des Menschengeschlechts und den dadurch verursachten Klimawandel und die Zerstörung des Planeten denke, werde ich wahnsinnig.“
Wo Schatten ist, ist auch gegenwärtiges Licht, mit dem Verweis auf das „tolle Tanzensemble“ am Anhaltischen Theater Dessau gelingt Giannetti dann noch ein letzter druckreifer Satz: „Ich bin glücklich, jetzt hier zu sein.“
Text: Mathias Schulze