Die Lage, 5. April bis 19. Mai, Puschkinhaus, alle Termine: www.buehnen-halle.de
Der Regisseur Max Radestock hat „Die Lage“, ein Stück von Thomas Melle, für die Bühnen Halle inszeniert. In flotten und unterhaltsamen 90 Minuten schnurrt eine der wichtigsten sozialen Fragen unserer Gegenwart, nämlich die, nach dem kaptitalistischen Wert des Wohnens, durch die Arena-Bühne im Puschkinhaus
Der Wohnraum als kapitalistische Ware also. Dieses Thema ist seit Jahren auch in Deutschland, vor allem in den florierenden Großstädten, so brennend, dass es eigentlich verwunderlich ist, dass man nicht Woche für Woche andauernde, hartnäckige, bundesweite und großangelegte Demonstrationen auf den Straßen erlebt.
Der Wohnraum als kapitalistische Ware. Gut ist es, dass sich ein Theater dieses Themas annimmt. Und gerade weil es so brennend ist, sollte eine Rezension zum Stück „Die Lage“ deutlich machen, worum es im Stück und auch in der Inszenierung nicht geht.
Etikettenschwindel braucht keiner. Also, eins vorweg: Wer die Inszenierung im Puschkinhaus besucht, bekommt keinen analytischen Blick auf den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel vermittelt. Gentrifizierung ist ein Prozess. Wie er funktioniert, erfährt man woanders. Auch politische Bemühungen wie die Mietpreisbremse und diverse Gesetzeslücken werden nicht erörtert.
Was bedeutet ein sogenannter freier Markt? Wieso hat so eine Partei wie die FDP überhaupt noch Wähler? Und wie könnte so ein Begriffsmonster wie „Enteignung“ in der Realität aus-sehen? Muss man bei dieser Vorstellung sofort an die Verhältnisse in der DDR denken? Gerade weil das Thema so brennend ist, ist es wichtig festzuhalten, dass genau solcherlei Fragen ins Schwarze zielen würden.
Und genau darum geht es im Stück vorrangig eben nicht! Als Versäumnis kann man das nur bedingt festhalten, denn „Die Lage“ fokussiert andere Dinge. Und flotte und unterhaltsame 90 Minuten gibt es trotzdem zu sehen. Im Zentrum des Stückes steht die abstiegsbedrohte und statussüchtige Mittelschicht, die auch bei der Wohnraumbesichtigung durchaus noch Kapital zu Markte tragen kann.
Die Bühne ist minimalistisch als Boxring gestaltet. Die Bühne als Arena, in der Wohnraumsuchende zu Gladiatoren mutieren. Die Suche nach einer Bleibe wird zu einem Kampf, erst ist es ein psychischer, dann wird es physischer. Entblößt werden beim wunderbar zugespitzten Auswahlverfahren Neurosen, Abgründe und Dummheiten.
Und wer sind wir? Wer ist das Publikum, das in dieser Inszenierung so unglaublich nah dran am Geschehen sitzt? Sind wir Zuschauende, die den Daumen senken oder heben? Glücklich kann sich schätzen, wer gerade eine bezahlbare Wohnung (in guter Lage!) anmieten oder sein Eigen nennen kann. Wer gerade in den Städten ein Dach über den Kopf sucht, kennt die Realitäten, ist unweigerlich Teil dieser Inszenierung, in der sich Florian Krannich, Harald Höbinger, Paula Dieckmann und Sybille Kreß ebenso wie Nils Thorben Bartling, Nicoline Schubert und Rico Strempel hemmungslos der Lust am Theaterspielen hingeben können.
Beim mehrfachen Wohnraumbesichtigen wechseln ständig die Rollen, mal sprechen alle im Chor, mal gibt einer den Erzähler – und der heilige Riesenschlüssel thront abwechselnd mal hier und mal da. Wunderbar wird die Hysterie der bedrohten Mittelschicht und der Wahn des Individualismus seziert, schöne Jeder-gegen-Jeden-Begleitmusik inklusive.
Die Inszenierung ist witzig, böse, absurd und entlarvend, einmal schallt es durch den Raum und den Wohnraumgladiatoren entgegen: „Was heißt hier Gentrifizierung? Sie sind die Gentrifizierung!“
Die Kostüme von Elena Scheicher sind inmitten der minimalistischen Bühne eine Wucht. Es ist, als träten waschechte Neandertaler auf, mittelalterliche Fetzen, Gummistiefel und Kampfmontur inklusive. Innerlich so gerüstet, ist jede SUV-Fahrt ein Vergnügen! Je härter die Cas-ting-Bedingungen werden, desto absurder und animalischer entblößen sich die Wohnungsinteressenten. Ja, die Decke der Zivilisation ist dünn. Das wieder und wieder vorgeführt zu bekommen, kann ein großes Vergnügen sein.
Zu sehen sind spritzige 90 Minuten, die zeigen, wie die Mittelschicht kollabiert. Doch wer bleibt am Leben? Wer ist der Nutznießer des Immobilien-Darwinismus? Und wer wäre schon froh, wenn das Dach am Stadtrand dicht ist? Wer wohnt wie und wo? Großartiges Theater würde alle Schichten oder Klassen gleichzeitig in den Blick nehmen.
Text: Mathias Schulze