Tunguska – Eine transsibirische Theater- Expedition, ab 25. November, WUK Theater Quartier, alle Termine und Sonderveranstaltungen zum Projekt unter www.wuk-theater.de, www.theater-aggregate.de
Das freie Theater „Aggregate“ aus Halle lädt mit dem Stück „Tunguska“ zu einer „transsibirische Theater-Expedition“. Unter der Regie von Silvio Beck spielen Astrid Kohlhoff, Maria Steurich, Jörg Petzold, Jan Uplegger und David Jeker. Die Sounds kommen von Wieland Krause. Aber was soll eine „transsibirische Theater-Expedition“ überhaupt sein? FRIZZ Das Magazin hat bei Beck nachgefragt
Hallo, Silvio Beck, die Ankündigung des neuen Aggregate-Stückes liest sich spannend, aber auch merkwürdig. Wie und warum soll sich aus einem historischen Ereignis, aus einer gigantischen Explosion Anfang des 20. Jahrhunderts in Sibirien, ein Theaterstück formen? Das Tunguska-Ereignis ist bis heute unaufgeklärt. Ins kollektive Gedächtnis hat sich eine seither immer wieder untersuchte Hypothese eingebrannt, wonach ein großer Meteorit dort eingeschlagen sei. Allerdings hat man bis heute keinen Krater und keine Meteoriten-Spuren entdeckt. So geht es mit jeder These weiter, nichts scheint konsistent. Das könnte man zugespitzt als eine zweite Katastrophe bezeichnen, denn Moderne heißt ja unter anderem, die Welt lückenlos erkennen und beherrschen zu wollen. Tunguska zeigt uns aber, wie unsere Erkenntnisinstrumente versagen und zwingt uns zu einer Korrek-tur. Diese Situation provoziert unweigerlich den Gang ins freie Gelände der Fantasie.
Und hier kommt das Theater ins Spiel.
Ja, Tunguska kann man als Folie für unsere aktuelle Gegenwart lesen: Der Mensch-Natur-Konflikt, das Ausspielen von Fakt und Fiktion, die Orientierungsprobleme …
Auf welche Quellen berufen Sie sich?
Da ist zunächst einmal die Kulturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke, die ein tolles Buch über die Mythen und Narrative, die sich um Tunguska ranken, geschrieben hat. Und da ist zum anderen Michael Hampe, ein Philosoph, der in einer Art Totengespräch unterschied- licher Wissenschaftler Tunguska ins Zentrum einer naturphilosophischen Untersuchung gestellt hat. Dann gibt es viel Material im Internet, beispielsweise Augenzeugenberichte der einheimischen Ewenken, ein Volk von Rentier-Züchtern und Schamanen. Es gibt Material über einige der vielen Expeditionen, aber auch Künste, die sich mit dem Thema meist sehr frei beschäftigten: Tarkowskis Film „Stalker“ etwa oder Sorokins Roman „Bro“, Stanislaw Lem oder auch Christian Kracht. Und last but not least gibt es noch die Ufologen und natürlich die Freunde des ganz großen Geheimnisses, wie bei Bond: Verrückter Wissenschaftlerschurke vernichtet die Welt.
Was war der entscheidende Punkt, der aus dem Stoff ein Stück gemacht hat?
Das kann ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, weil wir zum Zeitpunkt des Interviews, also Mitte Oktober, noch mitten in der Stückentwicklung sind. Spürbar ist aber jetzt schon, dass es kein „klassisches“ Stück, im Sinne der fünf oder drei Akte, mit durchgängigen Figuren und so weiter wird.
Sondern?
Es wird eher Formen des imaginativ aufgeladenen Berichts, des Epischen annehmen. Und damit meine ich jetzt nicht die Länge, da peilen wir entspannte 80 bis 90 Minuten an. Dennoch wird es auch klassische Spielszenen oder etwa Dialoge geben. Dazu kommen Sounds, die wir auf der Bühne einerseits selbst produzieren, aber auch Field Recordings, meist Naturaufnahmen wie akustische Bühnenbilder aus dem Off. Das schönste Problem besteht ja darin, einen Konflikt um ein Naturereignis auf die Bühne zu bringen. Das Theater operiert sonst im sozia- len Feld und Natur ist Kulisse. Wir wissen heute alle, dass dieses Schema nicht mehr funktioniert.
Sie werden mit dem Spannungs- verhältnis zwischen Realität, Fiktion und Hypothesen arbeiten. Soll dieser Zugriff Bezug nehmen auf unsere Brennpunkt-Debatten? Wenn ja, wie? Ich denke an Kriege und deren (mediale) Darstellungen oder an Fake News und Verschwörungstheorien.
Da gibt es Resonanzen, aber wir benennen das nicht direkt. Das Publikum bleibt frei in den eigenen Schlussfolgerungen. Ich würde sogar sagen, als Theatermacher habe ich die Freiheit und Lust eine Verschwörungstheorie in Bezug auf Tunguska für Momente attraktiv zu machen, mit ihr zu verführen. Persönlich glaube ich keinen Moment an einen frühzeitigen Atombombenversuch, dessen Akten unter Verschluss liegen würden, aber auf der Bühne kann so eine Geschichte als Narrativ unter Narra-tiven kenntlich werden. Und nicht nur das, es kann auch sicht- bar werden, mit welcher Wucht uns Geschichten im Griff haben. Manchmal habe ich den Eindruck, Gedanken und Geschichten sind Viren und wir nur die Wirte.
Was sind das für Zusatzveranstaltungen, die es zum Stück geben wird?
Geplant sind Lesung und Gespräch mit Solveig Nitzke, Performance und Gespräch mit einem Soundkünstler und eine Preview für ein kommendes Projekt zu Hanns Eisler mit der Sopranistin Ingala Fortange und dem Musiker Martin Steuber.
Text: Mathias Schulze